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Grund zur Sorge oder alles „halb so wild“? Alarmierende Zahlen zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen

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Unbeschwert spielende, fröhlich tobende Kinder auf Spielplätzen, in Kindergärten, auf Hinterhöfen. Schüler, die jeden Morgen voller Vorfreude in die Schule drängen. Mädchen und Jungen, die unbelastet von Sorgen und Nöten ihre Jugendzeit genießen. Sind das Bilder von gestern, realitätsfern und nicht mehr zeitgemäß? Gibt es sie überhaupt noch, diese glücklichen Kinder und Jugendlichen, die frei von den Belastungen der Älteren aufwachsen?

Wahrscheinlich gibt es sie noch – ebenso wie es vor 50 Jahren psychisch beeinträchtigte, aber eben auch glückliche und gesunde Kinder gab. Allerdings gibt es mittlerweile Veränderungen im psychischen Wohlbefinden der heutigen Heranwachsenden, die aufhorchen lassen – und nicht wenigen Eltern, Pädagogen und Medizinern einiges Kopfzerbrechen bereiten.

So hat eine vor kurzem veröffentlichte Studie in Bayern Furore gemacht, weil sie mit alarmierenden Zahlen daherkam: Rund ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen im Freistaat sei in ihrer seelischen Gesundheit beeinträchtigt, leide unter Entwicklungsstörungen und ernsthaften psychischen Problemen, heißt es in der Untersuchung, die im Jahr 2014 durchgeführt und im Juni dieses Jahres vorgestellt wurde. Fast 470.000 Minderjährige haben der Studie zufolge mit ärztlich diagnostizierten psychischen Störungen zu kämpfen; allein das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ADHS wurde bei mehr als 80.000 Kindern (über 4 Prozent) festgestellt – bei Jungen übrigens drei Mal so häufig wie bei Mädchen.

Bundesweit erste Studie zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen

Der aktuelle Bericht zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wurde im Auftrag des bayerischen Gesundheitsministeriums erstellt. Diese bundesweit erste Dokumentation zur psychischen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen basiert auf Daten aus unterschiedlichen Quellen, z.B. der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) und mehrerer Krankenkassen. Die Daten stammen von der großen Mehrheit (ca. 90 Prozent) der bayerischen Heranwachsenden, die Mitglied in der Gesetzlichen Krankenversicherung sind.

Ob sich die Ergebnisse aus Bayern auf die Situation in ganz Deutschland übertragen lassen, ist nicht erwiesen. Doch aus welchem Grund sollte man annehmen, dass im gesamten Bundesgebiet deutlich abweichende Ergebnisse erzielt würden? Hinweise darauf, dass zumindest die entsprechenden Tendenzen deutschlandweit vorhanden sind, kann man einer einschlägigen bundesweiten Untersuchung, der so genannten BELLA-Studie, entnehmen. Sie wird seit 2003 regelmäßig durchgeführt, zuletzt vor wenigen Jahren; Wissenschaftler vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) arbeiten dafür mit Experten vom Berliner Robert Koch-Institut zusammen. Die Essenz ihrer Ergebnisse: Bei etwa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen ließen sich zumindest Hinweise auf psychische Auffälligkeiten finden, rund 11 Prozent zeigten deutliche psychische Auffälligkeiten.

ADHS im Alter von 7 bis 14 Jahren besonders häufig

Zurück zu den jüngsten Ergebnissen aus Bayern. Schaut man sich die Zahlen genauer an, so erkennt man, dass die Art der Erkrankung nicht nur von den individuellen Umständen, sondern häufig auch vom Alter abhängt. So gehören bei Klein- und Vorschulkindern bis etwa sechs Jahren Entwicklungsstörungen zu den häufigsten Problemen.

Später dann, bei Kindern und Heranwachsenden zwischen 7 und 14 Jahren, werden Verhaltensauffälligkeiten und emotionale Störungen häufiger. In dieser Altersgruppe lautet in etwa 50 Prozent aller Fälle die Diagnose „ADHS“.

Meist sind es Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 Jahren, die der Studie zufolge an Depressionen erkranken. Die Realität sieht hier besonders traurig aus: bei etwa 14.000 jungen Menschen wurde im Jahr 2014 eine Depression festgestellt, wobei nur in der Hälfte aller Fälle der Kinderarzt oder der Hausarzt die Diagnose stellte. In den restlichen Fällen erkannte erst ein Facharzt die psychische Erkrankung. Ca. 3.000 Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren mussten 2014 wegen einer Depression stationär behandelt werden. Häufig kamen in dieser Altersgruppe auch noch Essstörungen ins Spiel. 10.500 Heranwachsende wurden deswegen 2014 behandelt, etwa 1000 von ihnen mussten stationär aufgenommen werden. Auch wenn die Zahlen bei den Jungen leicht zunehmen, sind von einer Essstörung immer noch hauptsächlich Mädchen betroffen. Schon ab etwa 13 Jahren findet sich fast die Hälfte aller Mädchen „etwas“ oder „viel“ zu dick.

Woran liegt´s? Was Experten dazu meinen

Auch wenn die Gründe für psychische Störungen im individuellen Fall häufig nicht eindeutig zugeordnet werden können, nennen Experten doch einige eindeutige Ursachen für diese hohen Zahlen. Diese haben vor allem mit unserer heutigen Lebenswirklichkeit zu tun – und damit, dass Kinder heutzutage immer früher mit diesen Realitäten konfrontiert werden. Leistungsdruck nicht erst in der Oberstufe, sondern schon ab dem Kindergarten. Allgemeine und berufliche Zukunftsangst – viele Entwicklungen in Europa und dem Rest der Welt machen Kindern und Jugendlichen buchstäblich Bauchschmerzen. Schon die Jüngsten erfahren von Kriegen, Flüchtlingselend und weltweiter Not aus dem Fernsehen und dem Computer. Ständige Informations- und Reizüberflutung via Smartphone und Co.. Dazu oftmals Probleme zuhause, die Trennung der Eltern oder wenig Zuwendung von Vater und Mutter, da beide beruflich stark eingespannt sind. Nicht zu vergessen: Mobbing – auf dem Schulhof oder weltweit im Netz. Gab es früher „Hänseleien“ auf dem Schulhof, wird der unbeliebte Mitschüler heute öffentlich über soziale Netzwerke bloßgestellt.

Kinder- und Jugendpsychiater, Pädagogen und Kinderärzte sind sich weitgehend einig: Zwar wachsen die Kinder heute weltoffener auf und haben mehr und besseren Zugang zu Bildung. Doch werden sie dafür auch mit umso mehr höchst unterschiedlichen Erfahrungen und Eindrücken konfrontiert, müssen mehr Stress und Druck aushalten, haben weniger sichere Zukunftsperspektiven und oft nur noch wenige Möglichkeiten, sich ausreichend auszutoben und „einfach Kind zu sein“.

Gründe sehen Fachleute dazu auch im engsten sozialen Umfeld der Kinder und Jugendlichen. So zeigen die Ergebnisse der bayerischen Studie auch, dass in sozial schwachen Familien psychische Probleme der Kinder dreimal häufiger auftreten als in „stabilen“ Familien mit hohem Sozialstatus. Auch ein Migrationshintergrund gilt als Risikofaktor für seelische Störungen bei Kindern. Doch allein in diesen Faktoren die Ursache zu suchen, greift Experten zufolge zu kurz. Vor allem sei das Klima wichtig, das innerhalb der Familie herrsche – dieses könne sowohl Risiko- als auch Schutzfaktor sein.

Vorsicht – Die Zahlen allein malen zu schwarz!

So alarmierend die Zahlen auch sein mögen – Experten warnen davor, falsche Schlüsse zu ziehen und zu glauben, dass wir auf eine Gesellschaft zusteuerten, in der immer mehr Kinder zu psychischen Wracks würden. Die Zunahme der reinen Fallzahlen sei oft nicht zuletzt auf eine veränderte Wahrnehmung zurückzuführen – insgesamt sei die Sensibilität für psychische Störungen größer geworden. Und dass selbst Kinder von diesen Störungen betroffen seien, gehöre inzwischen – leider – zur Normalität.

Doch: Was ist noch „normal“, wo fängt eine psychische Störung an? Fachleute sind sich da oft uneins, und auch unter Eltern, Erziehern und Lehrern münden die unterschiedlichen Meinungen mitunter in erbitterte Streitereien. Die – durchaus positive – gestiegene Sensibilität für psychische Störungen hat auch ihre Schattenseiten und beeinflusst damit nicht zuletzt die Zahlen, die oft alarmierender aussehen als sie eigentlich sind. Eigentlich „normale“, alters- und entwicklungsgerechte Auffälligkeiten werden als behandlungsbedürftige Krankheiten interpretiert. Das gilt nicht zuletzt für ADHS – viel und kontrovers diskutiert und inzwischen zum wahren Schreckgespenst aller Eltern geworden. Kinderarzt Berthold Koletzko vom Haunerschen Kinderspital der Universität München meint: „Eine ADHS-Diagnose ist sehr schwer zu stellen. Die Abgrenzung zwischen einer Überlastung und einer echten Krankheit ist nicht immer einfach.“ Gerade beim Verdacht auf ADHS empfehlen Fachleute übereinstimmend, sehr genau abzuwägen und ggf. mehrere Meinungen einzuholen, bevor man sein Kind womöglich unnötigerweise mit Medikamenten behandeln lässt. Eine wissenschaftlich eindeutige Ursache für die Entstehung des Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms gibt es bisher nicht. Neben verschiedenen Erklärungsansätzen besteht der Verdacht, dass der exzessive Medienkonsum, etwa stunden- und tagelanges Sitzen vor dem Computer, zu ADHS führt.

Aufklärung und Prävention – Kinder stärken und für sie da sein

Auf der Suche nach Lösungen kommt man schnell zu dem Schluss, dass den betroffenen jungen Menschen auf verschiedenen Ebenen geholfen werden muss. Im häuslichen Umfeld sind die Eltern in der Pflicht. Gelingt es ihnen, ein stabiles, liebevolles und stärkendes Umfeld zu schaffen, in denen das Kind sich geborgen, ernstgenommen und unterstützt fühlen kann, wird eine psychische Erkrankung eher unwahrscheinlich. „Den Kindern Pausen gönnen, wenn ihnen der Alltagsstress zu viel wird“, „Mit dem Kind über seine Ängste reden, ihm viel erklären und ihm zeigen, dass man da ist“, „Abends eher miteinander sprechen und spielen, statt vor dem Fernseher zu sitzen“ – so und ähnlich lauten die Tipps von Experten an Eltern.

Die Politik wiederum ist aufgerufen, noch mehr Aufklärung zu leisten und die entsprechenden Mittel und Maßnahmen zur Verfügung zu stellen. Schließlich ist Aufklärung die Grundlage der Enttabuisierung von psychischen Erkrankungen – und diese wiederum die Grundlage dafür, dass schnell Hilfe gesucht und gefunden werden kann. Dazu müssten hilfesuchenden Familien unterschiedlichste Anlauf- und Beratungsstationen zur Verfügung gestellt werden – nicht nur, wie bisher, vor allem in den Großstädten, sondern künftig noch viel verbreiteter auch im ländlichen Raum. Bei den Familien anzusetzen und sie befähigen, ihre Kinder durch schwierige Situationen zu begleiten: das ist der Anspruch, der nach Ansicht der Fachleute erfüllt werden muss. Kinderarzt Berthold Koletzko sagt: „Man muss Kinder, Jugendliche und Familien unterstützen und stärken, und die Belastung in der Schule mindern.“

Prävention scheint tatsächlich zu helfen – das belegen die ermutigenden Veränderungen beim Alkohol- und Nikotinkonsum von Jugendlichen, die die aktuelle bayerische Studie auch beziffert. Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ging das so genannte „Komasaufen“, sprich Einweisungen ins Krankenhaus infolge von Alkoholvergiftungen bei Jugendlichen, in Bayern zurück, gleichzeitig steigt der Anteil abstinenter Heranwachsender offenbar an. Der Anteil der Raucher im Alter zwischen 12 und 17 Jahren ist um fast zehn Prozent zurückgegangen. Kinderarzt Koletzko ist überzeugt: „Das sind Erfolge der Prävention!“

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Helga Boschitz
Autor: Helga Boschitz

Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.

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