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Berührungen: fast so wichtig wie die Luft zum Atmen

Kommentar schreiben Aktualisiert am 29. Juni 2020

Ein anerkennendes Schulterklopfen, eine kurze, freundliche Berührung am Arm, ein warmer, intensiver Händedruck, eine feste Umarmung, ausgiebige Streicheleinheiten – da wird einem doch schon beim Lesen ganz warm ums Herz, oder? Denn es sind doch Berührungen, die unser Leben immer wieder bereichern, die uns trösten und aufbauen, die in uns Zuversicht, Vertrauen, Zuneigung und Liebe wachsen lassen. In den jetzigen Zeiten der Kontaktbeschränkungen aber sind Berührungen – trotz vielfacher Lockerungen – eine kostbare Rarität geworden. Viele Menschen haben seit Monaten niemand anderen mehr angefasst – und umgekehrt.

 

Und viele Menschen sind allein und so einsam, dass sie auch abgesehen von Corona-Zeiten buchstäblich „unberührt“ durchs Leben gehen. Wir alle spüren schmerzlich, wenn sie fehlen, und auch Wissenschaftler sind sich einig: Berührungen sind fast so notwendig wie die Luft zum Atmen. Und bleiben sie aus, geht es uns nicht gut. Warum aber sind Berührungen eigentlich so wichtig? Und was geschieht, wenn wir ohne sie leben müssen?

 

Jede Berührung löst im Körper eine Vielzahl von Reaktionen aus.1 Über die Haut, das größte (Sinnes-)Organ des Menschen, dringen unterschiedlichste Empfindungen zu uns durch, etwa Wärme und Kälte, Schmerz und Druck, Formen und Strukturen. Viele Millionen Rezeptoren, also Berührungs-Weiterleitungen, senden empfangene Außensignale über Nervenbahnen ans Gehirn. Bei einigen handelt es sich um ganz spezielle Leitungen, die die empfangenen Berührungen auch emotional bewerten und Gefühle auslösen – die also entscheiden, ob sie sich angenehm anfühlen oder nicht. Das sind die sogenannten CT-Nervenbahnen, die tatsächlich ausschließlich dann aktiv werden, wenn wir sanft und langsam gestreichelt werden.

 

Inhaltsverzeichnis:

 

 

Berührungen machen glücklich und halten gesund

 

Sind die CT-Nervenbahnen erst einmal aktiv, passiert im Gehirn etwas Großartiges: Oxytocin wird ausgeschüttet, ein Hormon, das vielfach auch als „Glückshormon“ oder „Kuschelhormon“ bezeichnet wird. Bei einer Umarmung wird zudem auch der Botenstoff Dopamin freigesetzt, ebenfalls ein Stoff, der positive Stimmung erzeugt. Bleiben wir aber beim Oxytocin, das besonders viel kann. Es lindert z.B. Schmerzen, baut Stresshormone und Ängste ab und stärkt zugleich das Immunsystem. Atem- und Herzfrequenz sinken ab, wir entspannen uns, fühlen uns wohlig und warm. Oxytocin wird auch bei stillenden Müttern ausgeschüttet und vertieft ihre Bindung zum Baby; auch beim (guten) Sex durchflutet uns dieses „Wunderhormon“ und stärkt die Beziehung zum Liebespartner.

Da man inzwischen auch in der Medizin und Psychologie diese vielfachen, wunderbaren Effekte des Oxytocins kennt und anerkennt, gibt es verbreitet sogenannte Berührungstherapien, die therapiebegleitend u.a. gegen Ängste und Depressionen oder zur Vorbeugung von Erkrankungen angewendet werden.

 

Zur Wirkung von Berührungen gibt es zahlreiche Forschungen, Studien und Untersuchungen. Eine besonders faszinierende Erkenntnis erhielten schwedische Ärzte, als sie eine Frau mit einer seltenen Nervenkrankheit untersuchten. Grobe Berührungen bekam die Patientin nicht mit. Dagegen reagierte ihr Gehirn sehr deutlich auf sanfte Streicheleinheiten. Die dafür verantwortlichen Nervenleitbahnen hatte ihre Krankheit offensichtlich nicht beeinträchtigt. Die Folgerung der schwedischen Wissenschaftler: Sanfte Berührungen sind anscheinend so wichtig für den Menschen, dass er dafür ein eigenes „Meldesystem“ ausgebildet hat.2

 

„Körperkontakt ist ein Lebensmittel“

 

Studien an Mäusen haben ergeben, dass ihre Immunabwehr deutlich gestärkt war, wenn sie etwa eine Woche lang täglich sanft massiert wurden. Denselben Effekt zeigten Menschen nach einer täglichen Umarmung. Anderen Untersuchungen zufolge fördert Oxytocin auch das gesunde Wachstum von Frühgeborenen. Bekommen die Frühchen eine Berührungstherapie, nehmen sie doppelt so schnell zu wie ohne regelmäßige sanfte, liebevolle Berührungen.Generell sind sich Experten heute darüber einig, dass die körperliche, geistige und emotionale Entwicklung von Kindern umso besser verläuft, je mehr körperliche Zuwendung es zwischen ihnen und ihren Eltern bzw. ihren Bezugspersonen es gibt.

 

Und damit nicht genug. Freundlicher Körperkontakt, selbst in Form von nur kurzen Berührungen, fördert in Gruppen und Teams die Gruppendynamik, lässt weniger Aggressionen durchschlagen und steigert Risikobereitschaft und Leistung. Jüngst überraschte eine US-Studie mit dem Ergebnis, dass Kellnerinnen, die ihre Gäste – egal welchen Geschlechts – mit einer leichten, freundlichen Berührung am Arm bedachten, mehr Trinkgeld erhielten.1 Auch die positive Wirkung von Massagen ist vielfach belegt. So verordnen selbst Schulmediziner ihren Krebspatienten sanfte Massagen, um unangenehme Nebenwirkungen einer Chemotherapie oder Bestrahlung zu mildern, Schmerzen zu lindern, Ängste abzubauen und Depressionen entgegenzuwirken.3 4 5  Auch das Herz profitiert offenbar von positiv erlebtem Körperkontakt. So zeigte eine Studie, dass bereits nach einer 20-sekündigen Umarmung Blutdruck und den Herzfrequenz deutlich nach unten gingen. Die Autoren dieser Studie gehen sogar davon aus, dass Menschen, die in einer guten Partnerschaft leben, ein geringeres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben.6

 

„Bitte Abstand halten“ – was macht das mit uns?

 

„Körperkontakt ist ein Lebensmittel“, sagt der Psychologe und Haptik (also Berührungs-)-Experte Martin Grunwald in einem Interview mit „Brigitte Woman“.7 Der Leiter des Haptik-Forschungs­labors der Universität Leipzig ist sicher: „Der Mensch kann ohne Geschmackssinn leben, ohne Gehör, sogar ohne Augenlicht. Aber er bleibt nicht gesund, wenn ihm der Körperkontakt genommen wird.“ Was also geschieht mit uns, wenn – wie es jetzt bei so vielen Menschen zwangsläufig der Fall ist – Berührungen Mangelware sind?

 

In Deutschland und vielen anderen Ländern nimmt der Anteil an Singlehaushalten immer mehr zu – in manchen deutschen Großstädten lebt bereits jeder zweite Einwohner allein. Internet- und Smartphone-Nutzung dürften den Trend zur Vereinzelung und zum „Allein-Zuhause-Sitzen“ noch verstärken. Alleine zu leben ist für einige ein selbstgewählter und durchaus zufriedenstellender Zustand. Viele andere jedoch macht er unglücklich und einsam. Untersuchungsergebnisse aus verschiedenen Ländern zeigen: Wer dauerhaft allein ist und sich dabei einsam fühlt, läuft durchaus Gefahr, körperlich und seelisch krank zu werden. Eine kürzlich veröffentlichte französische Studie legt zumindest nahe, dass das Risiko für psychische Erkrankungen bei einsamen Menschen erhöht ist.

 

Bereits zuvor waren zahlreiche weitere internationale Untersuchungen zu vergleichbaren Ergebnissen gekommen und werden auch von Experten in Deutschland bestätigt.8 Einen deutlichen Zusammenhang zwischen fehlendem zwischenmenschlichen Kontakt und einer verringerten Lebenserwartung zeigt eine US-amerikanische Studie. In ihr wird sogar die These aufgestellt, dass ein gutes soziales Netzwerk das Risiko eines frühen Todes um 50 Prozent reduzieren könne.9

 

Bedürfnis nach Nähe ist unabhängig vom Alter

 

Wir sehen also, dass allzu viele Menschen schon unabhängig von einer Pandemie wie der derzeitigen unter einem Mangel an Berührungen leiden. Wen wundert´s – Berührungen sind ein so wichtiger Bestandteil der menschlichen Kommunikation. Der Entwicklungspsychologe Simon Forstmeier von der Universität Siegen erwähnt im „Nordkurier“10emotionspsychologische Experimente, „die gezeigt haben, dass Menschen Gefühle wie Liebe, Dankbarkeit, Sympathie, Ärger, Angst, Ekel erkennen können, nur anhand der Berührung durch eine andere Person.“ Dabei bleibe, so Forstmeier, das Bedürfnis nach positiv erlebten Berührungen bis ins hohe Alter bestehen; Forschungen zeigten sogar, dass Berührungen mit zunehmendem Alter als immer angenehmer wahrgenommen würden.

 

Ein wichtiger Aspekt vor dem Hintergrund von Kontaktsperren mit alten Heimbewohnern!

Im Artikel der „Brigitte Woman“werden aktuelle Zahlen genannt, die in einer Berührungsstudie der Technischen Universität Dresden ermittelt wurden. Demnach wünschen sich über 72 Prozent der 18- bis 56-jährigen Studienteilnehmer „mehr Umarmungen, Streicheln, Küssen, aber auch zufälliges Berühren und Händeschütteln“. Darunter mit Sicherheit auch Singles, die zwar keinen Partner, aber einen guten Freundeskreis haben. Denn nicht für jeden sind Umarmungen und andere körperliche Berührungen selbstverständlich und angenehm, wenn diese nicht innerhalb einer romantischen Beziehung stattfinden. Was also tun, wenn der abendliche Kuschelpartner auf der Couch, der Liebste im Bett und auch freundschaftliche Umarmungen und Berührungen fehlen?

 

„Free Hugs“, Kuschelpartys, Sonnenlicht – geeignet als Berührungs-Ersatz?

 

Aus dem Mangel können durchaus kreative Lösungsangebote entstehen – das beweisen zum Beispiel die sogenannten Kuschelpartys. Der Trend, der schon vor Jahren aus den USA über den Ozean nach Europa geschwappt ist, hat sich auch in Deutschland verfestigt. Organisiertes Kuscheln mit Fremden, nach Verabredung und ohne weitere freundschaftliche oder intimere Bindung – für viele eine tolle Möglichkeit, den leeren Seelen-Akku aufzuladen, für andere undenkbar. So äußert sich die Neurowissenschaftlerin Rebecca Böhme, die über soziale Interaktion forscht, in „Brigitte Woman“eher kritisch zu den professionellen Kuschelangeboten: „Ein wirklich grundlegender Effekt zeigt sich nur, wenn Berührung und Nähe Teil unseres Alltags sind." Berührungs-Experte Martin Grunwald dagegen findet organisiertes Kuscheln gut, sofern es in einem geschützten Rahmen stattfindet: „Bei wohlmeinendem Körperkontakt, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort stattfindet, ist es fast egal, wer uns berührt."

 

Ähnlich positiv bewertet Grunwald denn auch die „Free Hugs“-Bewegung, die von einem einsamen Australier erfunden wurde und sich über die ganze Welt verbreitet hat. Menschen stehen mit einem Pappschild auf der Straße und bieten „Free Hugs“, also „kostenlose Umarmungen“ an. Passanten, die sich – oft nach anfänglichem Zögern oder schamhaftem Kichern – eine Umarmung holen, fühlen sich danach tatsächlich besser. Martin Grunwald dazu in einem Beitrag des Bayerischen Rundfunks: „Da kommt doch niemand mit verzerrten Gesichtszügen raus. Die Menschen strahlen und sind glücklich.“11

 

Wohltuend dürften auch Wellness-Massagen wirken, die inzwischen verbreitet angeboten werden. Vielleicht tut manchem auch die liebevolle Selbstberührung gut, sanftes Streicheln über die eigene Haut, vielleicht bei Kerzenlicht, mit einem angenehmen Raumduft und entspannender Musik. Schaden wird dies zumindest nicht, auch wenn Wissenschaftlerin Rebecca Böhme einschränkt, dass Selbstberührungen einen weit geringeren Effekt haben als das Streicheln eines anderen Menschen. Das Gehirn filtere Eigenberührungen aus und dämpfe die daraus entstehenden Empfindungen.12

 

Haustiere können den Hunger nach Berührungen stillen

 

Wir lange man es ohne Berührungen nun aushält, darüber lässt sich keine allgemeingültige Aussage treffen – vor allem, weil das Bedürfnis nach Nähe und Berührungen ja bei jedem Menschen anders und unterschiedlich ausgeprägt ist. Im „Nordkurier“10 werden in diesem Zusammenhang die „fünf Sprachen der Liebe“ erwähnt, die der US-Paarberater Gary Chapman geprägt hat. So seien neben Berührungen auch Äußerungen von Anerkennung, Dankbarkeit, gemeinsam verbrachte Zeit, Geschenke und Hilfeleistungen ungemein aufbauend. Im Bayerischen Rundfunk13 empfiehlt Rebecca Böhme, die Sozialkontakt-Expertin, durch Sonnenlicht, warme Duschen oder eine warme Kuscheldecke fehlende menschliche Wärme zumindest ein bisschen zu kompensieren.

 

Für viele ein echter und der wertvollste Menschenersatz sind und bleiben geliebte Haustiere. Auch hier haben bereits diverse Studien gezeigt, dass auch das Streicheln von Hunden oder Katzen zur Ausschüttung von Glückshormonen und zum Stressabbau führt. Vielleicht wäre es also für manchen genau jetzt die richtige Zeit, sich endlich doch den lang ersehnten vierbeinigen Freund ins Haus zu holen?

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Helga Boschitz
Autor: Helga Boschitz

Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.

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