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AvP-Insolvenz: „Die Geldsumme hat man nicht in der Portokasse“

Kommentar schreiben Dienstag, 27. Oktober 2020

Das Jahr 2020 wird vielen Apothekern in schlechter Erinnerung bleiben. Gebeutelt durch die Umsatzeinbußen während der Coronakrise kam für mehr als 3000 Apotheken im September dieses Jahres noch die Insolvenz des Abrechenzentrums AvP hinzu. Je nach Größe der betroffenen Apotheke fehlen Monatsumsätze von mehreren Hunderttausend bis teils mehr als einer Million Euro. Eine finanzielle Schieflage, die für viele Pharmazeuten das existentielle Aus bedeuten könnte. Von Seiten der Politik reagiert man verhalten, finanzielle und staatliche Hilfen sind zunächst nicht geplant. Zwar werden günstige KfW-Schnellkredite in Aussicht gestellt, doch ob diese tatsächlich mehr als der Tropfen auf den heißen Stein sein können, um die wirtschaftliche Misere in den betroffenen Apotheken zu lindern, ist fraglich.

 

Inhaltsverzeichnis

 

Fast eine halbe Milliarde Kassenrezepte1 werden jährlich in deutschen Apotheken eingelöst. Um bei über 100 gesetzlichen Krankenkassen2 und mehreren Millionen Versicherten3 den Überblick zu behalten, vertrauen Apotheken größtenteils bei der Rezeptabrechnung auf eines der bundesweit 18 Abrechnungszentren4. Deren Hauptaufgabe ist es, die analogen Angaben auf den rosafarbenen Muster-16-Formularen zu erfassen, in elektronische Daten umzuwandeln, daraus die Abrechnungen für die Apotheken anzufertigen und diese an die Versicherungen weiterzuleiten.

 

Außerdem sind sie dafür zuständig, die von den Krankenkassen eingehenden Zahlungen an die Apotheken weiterzuleiten. Bei den Abrechnungszentren handelt es sich überwiegend um standes- oder apothekeneigene Institutionen, nur ein kleiner Teil ist in privater Hand. Hierzu gehört auch die 1947 gegründete AvP Deutschland GmbH (kurz AvP), der nach eigenen Angaben größte private Rezeptabrechner in Deutschland.5

 

Seit wann ist die AvP insolvent?

 

Bereits Anfang September häuften sich die Anzeichen, dass bei AvP nicht alles rund läuft. Die Abschlagszahlungen für August erfolgten verspätet oder blieben aus, das Unternehmen war für Nachfragen betroffener Apotheker kaum oder gar nicht zu erreichen.6 AvP-Gesellschafter Mathias Wettstein erklärte damals gegenüber APOTHEKE ADHOC, dass ein Serverumzug ursächlich für die Schwierigkeiten sei. Seinen Angaben zufolge hinge ein dreistelliger Millionenbetrag beim Rechenzentrum fest. Man sei aber optimistisch, dass alles bald wieder reibungslos laufe.7

Wie schwerwiegend und von welcher Natur die Probleme tatsächlich waren, zeigte sich knapp eine Woche später: seit dem 16. September läuft das offizielle AvP-Insolvenzverfahren.

 

Die Chronologie der vorangegangenen Ereignisse geht aus einem Schreiben des Bundesfinanzministeriums auf Anfrage des Vizevorsitzenden der FDP-Bundestagsfraktion Christian Dürr hervor. Demzufolge hatte die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) bereits seit Anfang September Kenntnis über die Zahlungsschwierigkeiten des Unternehmens. Am 10. September habe die Aufsichtsbehörde konkrete Maßnahmen gegenüber der Unternehmensleitung festgelegt. Demnach war der AvP mit sofortiger Wirkung untersagt Gelder auszuzahlen. Um die Anordnungen zu überwachen, bestellte die BaFin noch am selben Tag einen Sonderbeauftragten der Deutschen Bundesbank, der am 11. September seine Arbeit in den AvP-Geschäftsräumen aufnahm. Noch am selben Tag erfuhr die BaFin “dass es trotz ihrer Anordnung zu erheblichen Auszahlungen gekommen war“ und das Rechenzentrum die Vorgaben der Aufsichtsbehörde umging. Am 14.09.2020 setzte die die Bundesanstalt den Sonderbeauftragten Ralf. R. Bauer als alleinigen Geschäftsführer der AvP ein, der am 15.09.2020 beim Amtsgericht Düsseldorf den Insolvenzantrag stellte.8 Im Zuge dessen wurde der Rechtsanwalt Dr. Jan-Philipp Hoos zum vorläufigen Insolvenzverwalter ernannt.9

 

Eine Woche später leitete die Staatsanwaltschaft Düsseldorf Ermittlungen ein, nachdem die Bafin Strafanzeige erstattet hatte. „Wir ermitteln gegen zwei Beschuldigte wegen Bankrotts“, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft am 21.9. auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. Nähere Angaben zur Identität der Beschuldigten wollten die Ermittler nicht machen. In Haft befinde sich derzeit aber keiner der Verdächtigen.10 Zeitweise kursierte das Gerücht, der bereits wegen Steuerhinterziehung vorbestrafte Firmenchef Mathias Wettstein sitze in Untersuchungshaft.11

 

Kein AvP-Schutzschirm

 

Für die betroffenen Apotheken beginnt nun eine Zeit des Hoffens und Bangens. Die Beratung des Gesundheitsausschusses über die AvP-Insolvenz am 9. Oktober ergab, dass es von Seiten der Politik zunächst keine schnellen finanziellen und staatlichen Hilfen geben wird. Und auch die Ausschüttung aus der Insolvenzmasse wird noch auf sich warten lassen. Ein Ergebnis, das ABDA-Präsident Friedemann Schmidt in einem Interview mit der Pharmazeutischen Zeitung als “schlechte Nachricht für Apotheker“ bezeichnete. Laut Friedemann sei die ABDA jedoch im intensiven Austausch mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und setze darauf, dass diese bei der Vergabe von Krediten auch Einzelfallprüfungen zulasse, beispielsweise wenn der Kreditnehmer die Anforderungen nicht erfülle. Es habe einen entsprechenden Hinweis gegeben, dass die KfW dazu bereit sei.12

 

„Schlicht unerträglich“, so schildert Apothekerin Beatrice Guttenberger aus Ochsenfurt in einem offenen Brief die Maßnahmen, die von Seiten der Politik im Falle des AvP-Skandals unternommen werden. Sie sei fassungslos und bitter enttäuscht. Die Kollegen hätten nichts falsch gemacht, studiert, das Risiko der Selbstständigkeit auf sich genommen und ihre Kunden bestmöglich versorgt. Nun würden sie dank der aufgezwungenen Rechtsform für einen Vorgang mit ihrem Privatvermögen haftbar gemacht, der sich komplett aus deren Einflussbereich entzieht. „Wie können Sie das zulassen?“. Adressiert ist das Schreiben an Ministerpräsident Markus Söder und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn; die Kündigung ihrer CSU-Mitgliedschaft hat Beatrice Guttenberger direkt beigefügt.13

 

Hilfestellungen von Seiten der Großhändler, Banken und Abrechnungszentren

 

Aktuell sehen sind ein Fünftel aller deutschen Apotheken durch die AvP-Insolvenz mit einer teils existenzbedrohlichen Situation konfrontiert. Von Seiten der pharmazeutischen Großhändler wird den geschädigten Pharmazeuten Unterstützung zugesichert. So antwortete die Gehe auf Nachfrage von apomio: “Unser Außendienst hat sehr schnell und proaktiv Kontakt mit den betroffenen Kunden aufgenommen. Dabei wurde klar, dass jeder Fall anders ist und wie wichtig deshalb zügige und individuelle Hilfe ist. Unser Unterstützungsangebot ist daher stets auf die individuelle Situation zugeschnitten. Wir haben außerdem Angebote aufgezeigt, die verschiedene Marktteilnehmer zur Unterstützung bereitstellen. Es kann z.B. ebenfalls eine Lösung sein, das Zahlungsziel für die Sammelrechnung zu verlängern.“

 

Darüber hinaus sei auch die emotionale Unterstützung von großer Bedeutung. Für viele Apotheker sei es wichtig, dass sie mit ihrem Problem nicht alleine dastehen. Ähnlich formuliert waren auch die Antworten von Sanacorp und Phoenix.14

 

Auch seitens der Banken wird den Geschädigten Unterstützung zugesagt. Auf der Homepage der Deutschen Apotheker- und Ärztebank ist zu lesen: „Wir bieten eine unbürokratische Soforthilfe für Kunden an, die dadurch von Verzögerungen bei Zahlungsflüssen betroffen sind“, eine eigene Hotline wurde eingerichtet.15 Die Deutsche Bank entwickelte gemeinsam mit der Medical Network Stiftung ein Überbrückungsdarlehen, um die auf Eis gelegten Rezeptwerte zwischenzufinanzieren.16

 

Von den Rechenzentren wird angeboten AvP-Kunden aufzufangen und die weitere Abrechnung zu gewährleisten. Mitstreiter NOVENTI will den betroffenen Apotheken möglichst schnell und unbürokratisch helfen. Nach eigenen Angaben wurde hierzu ein 250 Millionen Euro-Hilfsprogramm aufgelegt. Für teilnehmende Apotheken wird dadurch die erforderliche Liquidität möglichst innerhalb von 24 Stunden sichergestellt. Die Voraussetzungen für eine Unterstützung aus dem Hilfspaket sind unter anderem der Abschluss eines Abrechnungsvertrages bei NOVENTI sowie die erste Einlieferung von Rezepten.17

 

Kurzfristige Verdopplung des „Apothekensterbens“

 

Seit mehr als zehn Jahren nimmt die Zahl der öffentlichen Apotheken kontinuierlich ab, die flächendeckende Versorgung der Menschen mit Arzneimitteln gestaltet sich zusehends schwieriger.18 Der Apothekerverband Nordrhein (AVNR) rechnet als Folge der AvP-Insolvenz mit einer kurzfristigen Verdoppelung des „Apothekensterbens“. Alleine in NRW sind etwa fünf Prozent der aktuell 3.985 Apotheken so stark betroffen, dass eine kurzfristige Schließung droht. Bundesweit seien es drei Prozent der insgesamt 19.075 Apotheken, die massiv geschädigt sind.19

 

Im Interview mit apomio schildert ein betroffener Apotheker aus Nordbayern die aktuelle Situation. Er habe sich damals aufgrund des guten Rufes für die Rezeptabrechnung über die AvP entschieden. Von der Insolvenz hatte er aus den Medien erfahren. Anzeichen, die auf deren Misere im Vorfeld hingedeutet hätten, gab es nicht. Die Auswirkungen seien für einige Kolleginnen und Kollegen fatal, die Langzeitfolgen wiegen wahrscheinlich schwerer als man sich vorstellen könne, denn die Geldsumme habe man nicht in der Portokasse. Auf die Frage, wie er und sein Team mit der momentanen Situation umgehen, antwortet er: „Alle sind unsicher, wie eine solche Katastrophe entstehen konnte. Wo sind die Aufsichtsräte? Wo sind die Kontrollinstanzen?“. Konkrete Hilfsangebote von Seiten anderer Abrechenzentren, Großhandel und Banken habe er bisher nicht erhalten.20

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Linda Künzig
Autor: Linda Künzig

Linda Künzig, Apothekerin mit Weiterbildungen im Bereich Homöopathie und Naturheilverfahren. Neben ihrer Tätigkeit in einer öffentlichen Apotheke unterstützt sie seit Mai 2019 die Apomio-Redaktion als freie Autorin.

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