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Einzelkinder – verwöhnte Egoisten?

Kommentar schreiben Aktualisiert am 01. Oktober 2019

Sie werden mit Argwohn betrachtet und gleichzeitig beneidet – Einzelkinder! Ihr Ruf eilt ihnen nicht selten voraus. So gelten sie als verwöhnt, egoistisch und wenig teamfähig.

Doch woher rühren solche Vorurteile? Lässt die Familiengröße tatsächlich Rückschlüsse auf Charakter und Sozialverhalten zu? Und wie kann man mögliche Nachteile ausgleichen? Dem möchten wir folgend gerne auf den Grund gehen.

 

Jedes vierte Kind wächst ohne Geschwister auf

 

Wenngleich der generelle Eindruck ein anderer sein mag – statistisch gesehen ist die Zahl der Einzelkinder in Deutschland seit Jahrzehnten relativ stabil. Tatsächlich wachsen heute nicht wesentlich mehr Kinder ohne Geschwister auf, als das schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war. Etwa jedes vierte Kind in Deutschland ist ein Einzelkind. Statistisch gesehen gibt es mehr Einzelkindfamilien in der Stadt als am Land und mehr im Osten als im Westen.1

 

Was heutzutage sicherlich stärker zum Tragen kommt als noch vor einigen Jahrzehnten, ist die bewusste Entscheidung für ein Einzelkind. Nicht nur Neuerungen in der Empfängnisverhütung spielen hier eine Rolle, sondern ebenso der Wunsch, einen gewissen Lebensstandard beizubehalten. Dieser lässt sich mit nur einem Kind natürlich leichter realisieren. Auch findet Familiengründung tendenziell später statt, weshalb mehr als ein Kind manchmal auch biologisch gar nicht möglich ist.

 

Einzelkinder: Ihr Ruf eilt ihnen voraus

 

Um Einzelkinder ranken sich viele Vorurteile. Mag man sie auch still und heimlich beneiden, eine ordentliche Portion Skepsis kommt dennoch nicht zu kurz. So gelten Einzelkinder gemeinhin als altklug und verwöhnt. Der Ruf des verhätschelten Egomanen haftet ihnen seit Jahrzehnten an, ohne dass sie sich dessen erwehren können. Einzelkindern sagt man zudem nach, sie seien im Sozialverhalten gegenüber Kindern mit Geschwistern deutlich benachteiligt. Konfliktlösung, Kompromissbereitschaft, Teamwork – all das lernt ein Einzelkind schließlich nicht ganz selbstverständlich in der Familie! Doch was hat es mit solchen Stereotypen auf sich? Halten sie der Realität wissenschaftlich überhaupt stand?

 

Was ist dran an Vorurteilen über Einzelkinder?

 

Wichtig in Bezug auf Vorurteile gegenüber Einzelkindern ist, dass man sie im Kontext ihrer Zeit betrachten muss. Tatsächlich hält sich die Weisheit des egoistischen Einzelkindes, das mit Ellenbogentechnik durchs Leben schreitet und ein bedenkliches Sozialverhalten zeigt, nämlich bereits seit über 100 Jahren. Sie geht auf wissenschaftliche Erhebungen zurück, die heute längst widerlegt und demnach nicht mehr haltbar sind.

 

Ende des 19. Jahrhunderts verschriftlichten zwei amerikanische Psychologen, Hall und Bohannon, gängige Vorurteile über Einzelkinder, die uns noch heute wohlbekannt sind. Andere Wissenschaftler sprangen auf diesen Zug auf. Stereotype von egomanischen Einzelkindern, die sich schwer in die Gesellschaft einfügen und ein gestörtes Sozialverhalten an den Tag legen, stammen also aus einer Zeit, in der ein Einzelkind Seltenheitswert besaß. Durchschnittlich fünf bis sechs Kinder lebten damals in einer Familie.

 

Wer keine Geschwister hatte, kam recht wahrscheinlich aus schwierigen Familienverhältnissen. Es waren (Halb-)Waisen, Kinder mit kranken Müttern oder auch unehelich geborene Kinder, was einen massiven gesellschaftlichen Makel darstellte. Solche Kinder wuchsen per se in prekären Verhältnissen und sehr isoliert auf.2

 

Dass Einzelkinder damals schwierige Verhaltensweisen entwickelten, ist den Umständen geschuldet, in denen sie lebten. Im Diskurs über Stereotype und Vorurteile gegenüber Einzelkindern muss diesem Aspekt Rechnung getragen werden. Die heutige Datenlage zeichnet ein ganz anderes Bild über Stärken und Schwächen von Einzelkindern.

 

Einzelkinder sind gegenüber Geschwisterkindern nicht benachteiligt

 

Die Sozialpsychologin Toni Falbo setzte sich als eine der Ersten mit Vorurteilen gegenüber Einzelkindern auseinander, die sich so hartnäckig halten. Ihre Forschungsergebnisse veröffentlichte sie 1984 („The Single Child Family“). Sie stellte keine generellen Nachteile fest, nur weil ein Kind keine Geschwister hat. Im Gegenteil zeigte sie sogar leichte positive Tendenzen in Bezug auf Selbstbewusstsein und akademische Leistungen auf.3

 

Generell verweist die heutige Datenlage darauf, dass es nicht so viele Unterschiede zwischen Einzelkindern und Kindern mit Geschwistern gibt, wie man gemeinhin glauben könnte. Vorteile und auch Nachteile sind eher als Tendenzen zu sehen. So zeigt sich, dass Einzelkinder beispielsweise sogar etwas kompromissbereiter sind und leichter teilen können, da sie dies nicht ständig mussten und daher gerne und freiwillig tun.

 

Auch übernehmen sie tendenziell eher Verantwortung und schaffen es leichter, zu ihren Fehlern zu stehen.4 Im Gegenzug dazu gelten sie als etwas weniger durchsetzungsfähig, da die selbstverständliche Reibung mit Geschwistern fehlt.5

 

Auch eine Studie der amerikanischen Soziologin Judith Blake aus dem Jahr 1989 zeigt auf, dass Einzelkinder keine grundsätzlichen Nachteile gegenüber Geschwisterkindern erfahren. Leichte Vorteile konnten in Bezug auf akademische Leistungen (so seien Einzelkinder tendenziell häufiger in Führungspositionen vorzufinden) und sozialer Aktivität festgestellt werden.6

 

Erziehung und Eltern-Kind-Beziehung als wesentliche Faktoren

 

Experten verweisen heutzutage deutlich darauf, dass es nicht wesentlich ist, ob ein Kind mit Geschwistern aufwächst oder ohne. Vielmehr stehen Erziehung sowie die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung im Fokus, wenn es um die Ausbildung von Persönlichkeitsmerkmalen geht.7

 

Möglichen Nachteilen von Einzelkindern gilt es entgegenzuwirken

 

Die häufig sehr enge Eltern-Kind-Beziehung in Ein-Kind-Familien birgt die Gefahr, dass sich Eltern zu sehr auf das Kind konzentrieren und es damit überfordern. Die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern kann als positiv und negativ gleichzeitig empfunden werden und mitunter gehörig nerven.8 Es fehlen Geschwister, die durchaus auch als Puffer fungieren und Erwartungen relativieren.

 

Darüber hinaus fällt es Eltern von Einzelkindern manchmal ein wenig schwerer, loszulassen, was vor allem in Lebensphasen, in denen es um Ablösung geht – allen voran in der Pubertät – für Spannungen sorgen kann.9

 

Tipps für Einzelkind-Eltern

 

Eltern sollten ihren Kindern von klein auf soziale Kontakte mit anderen Kindern und damit Lernerfahrung ermöglichen. Dazu braucht es aber nicht zwingend Geschwister. Gerade der aktuelle Fokus auf (frühe) Fremdbetreuung und Freizeitgruppen kommt der sozialen Entwicklung sehr entgegen.10

 

Neben dem Fördern sozialer Kontakte zu anderen Kindern gibt es einiges, das Eltern von Einzelkindern im Alltag umsetzen können, um mögliche Nachteile bestmöglich auszugleichen:

 

  • Erwartungshaltung zurückschrauben: Gerade, weil es keine Geschwister gibt, liegen persönliche Erwartungen häufig gebündelt bei einem Kind (Bildungsweg, Berufswahl, Familiengründung, …). Das kann zu Druck sowie Überforderung führen und bietet wenig Raum für eigene Entscheidungen.  
  • Den Fokus auch auf anderes richten: Manchmal ist es nicht unbedingt förderlich, den Fokus durchgehend beim Kind zu belassen. Einzelkinder profitieren davon, wenn sie nicht ständig unter Beobachtung stehen und auch einmal ein wenig warten müssen.
  • Ermutigung in Konfliktsituationen: Einzelkinder sind häufig zu kompromissbereit, sind sie doch wenig geübt in Bezug auf Konflikte und Durchsetzung. Ermutigen Sie Ihr Kind in Streitsituationen mit anderen Kindern durchaus dazu, den eigenen Standpunkt zu vertreten und Bedürfnisse durchzusetzen. Nachgeben ist nicht immer von Vorteil, Durchsetzungsfähigkeit entwickelt sich im Kindesalter.
  • Das Kind als Kind behandeln: Gerade wenn keine/kaum Kinder im Umfeld vorhanden sind und eventuell auch noch ein Partner fehlt, neigen Eltern dazu, das Kind zu sehr in die Rolle eines Erwachsenen zu drängen. Hier kann regelmäßige Reflexion notwendig sein, um solche Zuschreibungen zu vermeiden.

 

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Daniela Jarosz
Autor: Daniela Jarosz

Daniela Jarosz ist Sonder- und Heilpädagogin. Während des Studiums hat sie sich intensiv mit Inhalten aus Medizin und Psychologie auseinandergesetzt. Sie arbeitet seit vielen Jahren im psychosozialen Feld und fühlt sich außerdem in der freiberuflichen Tätigkeit als Autorin zuhause. Im redaktionellen Bereich hat sie sich auf die Fachrichtungen Medizin, Gesundheit, Nachhaltigkeit, Work-Life-Balance sowie Kinder und Familie spezialisiert.

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