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Alles zum Heulen: warum Menschen weinen

Kommentar schreiben Aktualisiert am 18. April 2016

Die Augen werden glasig, röten sich, laufen schließlich über. Eine klare Flüssigkeit, bestehend aus Salz, Proteinen und Enzymen, anorganischen und stickstoffhaltigen Substanzen sowie Kohlenhydraten rinnt die Wangen hinab. Vielleicht ist ein Fremdkörper ins Auge gelangt oder man ist beim Zwiebelschneiden, sodass sich das Weinen reflexhaft einstellt – der Körper reagiert mit einer vermehrten Produktion von Tränenflüssigkeit, um den Fremdkörper aus dem Auge zu schwemmen, es zu reinigen und zu schützen. Vielleicht geht es aber auch um große Gefühle: Angst, Ärger, Hilflosigkeit, Rührung, Trauer, Kummer, Kränkung, Mitgefühl – oder auch Freude und schallendes Gelächter. In diesen Fällen fließen die Tränen ebenso, sie haben dann nur eine andere chemische Zusammensetzung als beim reflexhaften Weinen, sie enthalten z.B. bis zu einem Viertel mehr Proteine und deutlich größere Anteile bestimmter Hormone und anderer Stoffe.

Tränen werden vom menschlichen Organismus laufend produziert und von den Tränendrüsen ständig abgesondert. Sie sind dazu da, um den Bindehautsack im Auge zu reinigen, die Hornhaut zu befeuchten und zu ernähren sowie um Unebenheiten der Hornhautoberfläche auszugleichen. Geschätzt wird eine tägliche Produktionsmenge zwischen einem Gramm und einem halben Liter – abhängig davon, wie viele Tränen verdunsten und wie viele durch die Tränenwege abfließen. Reize wie Kälte, Fremdkörper im Auge und auch das buchstäbliche „Tränen Lachen“ lassen die Produktion um ein Vielfaches ansteigen – ebenso wie das Gähnen. Dass einem beim herzhaften Gähnen die Tränen kommen, liegt daran, dass das Auge vermehrt Flüssigkeit braucht, um wach zu bleiben und wach zu werden. Während des Schlafs ist die Tränenproduktion vorübergehend eingestellt.

Schon in unseren ersten Lebenstagen fängt unser Körper an, Tränen zu produzieren. Bei Kindern und jungen Erwachsenen erreicht die Produktion ihren Höhepunkt, mit zunehmendem Alter geht sie dann immer mehr zurück; ganz eingestellt wird sie jedoch nie, und selbst nach stundenlangem Weinen geht die Tränenflüssigkeit nicht aus.

Weinen als Gefühlsäußerung – für die Forschung ein uraltes Rätsel

So viel zu den nüchternen Fakten und biochemischen Vorgängen rund um die menschlichen Tränen und das reflexhafte Weinen. Physiologisch ist zu diesem Thema viel untersucht und festgestellt worden – doch wenn es um das Weinen aus emotionalen Gründen geht, sind noch viele Fragen offen. Der Wissenschaft ist es bis heute nicht gelungen, eindeutig zu klären, warum wir eigentlich weinen. Die Forscher streiten sich, während rund um den Erdball Abermillionen Tränen fließen – denn dass alle Menschen in allen Kulturkreisen aus emotionalen Gründen weinen, das zumindest steht fest.

Am wenigsten Unklarheit herrscht in der Frage, warum Babys weinen. Für die Kleinsten ist das Weinen zunächst der einzige Kommunikationsweg und ein Ausdruck für alle Bedürfnisse und seelischen Nöte, die sie verspüren. Weinen ist die Sprache der Babys und heißt, in unsere Sprache übersetzt: „Ich habe Hunger!“, „Mir tut der Bauch weh!“, „Meine Windel ist voll!“, „Mir ist langweilig!“, „Ich will auf den Arm!“ und viele andere Dinge.

Doch warum weinen größere Kinder, Jugendliche und Erwachsene? Einer der ersten, der diesem Thema auf den Grund gehen wollte, war im 19. Jahrhundert der berühmte Naturforscher Charles Darwin. Er behauptete, das Weinen diene unter anderem zur Entspannung, zum Schutz gegen Stress und zur besseren Verarbeitung von emotionalen Belastungen. Viele Forscher sind bis heute dieser Ansicht, auch wenn sie inzwischen durch zahlreiche Studien widerlegt scheint. Ein weinender Mensch, so zeigten viele Untersuchungen, ist durchgehend in einem körperlich-seelischen Spannungszustand und fühlt sich selbst nach dem Weinen nicht ruhiger und entspannt. Wirkliche Erleichterung wird erst dann wahrgenommen, wenn der Grund für das Weinen aus der Welt geschafft ist. Forscher, die Darwins These folgten, waren zunächst elektrisiert von der Feststellung, dass die emotionalen Tränen sich in ihrer Zusammensetzung deutlich von Reflex-Tränen unterscheiden: In den Tränen, die aus Wut, Freude, Kummer oder Angst fließen, ist erwiesenermaßen mehr Mangan, Kalium und bei Frauen auch vermehrt das Milchbildungshormon Prolactin vorhanden, ebenso wie das „Glückshormon“ Serotonin, ein wichtiger Botenstoff bei der Signalübertragung im Nervensystem. Als Beleg für einen therapeutischen, stressabbauenden Effekt des Weinens reichte diese Erkenntnis dann aber doch nicht aus. Die entsprechenden Hormone und Substanzen sind in den Tränen nur minimal vorhanden, und auch weitere Stresshormone wie Adrenalin oder Dopamin konnten bislang in Tränen nicht gefunden werden. Damit ist das Argument, Weinen diene der emotionalen Entlastung, indem belastende körpereigene Stoffe über die Tränenflüssigkeit ausgeschieden würden, wohl fürs Erste vom Tisch.

Bleibt die Frage: Wozu ist Weinen eigentlich gut?

Viele wissenschaftliche Thesen ranken sich um das emotionale Weinen, jedoch ist bis heute tatsächlich keine einzige wirklich belegt. Einige Forscher gehen – wie bereits Darwin vor rund 200 Jahren – davon aus, dass Weinen eine Form von sozialer Interaktion und Kommunikation ist. So können Tränen einigen Wissenschaftlern zufolge Signale an die Umwelt aussenden und z.B. Mitgefühl bei anderen hervorrufen oder verstärken. Die Emotionen weinender Menschen werden nachweislich von anderen intensiver wahrgenommen als wenn sie nur in Worte gefasst werden. Damit verknüpfen manche Forscher die These, dass der Zweck des Weinens darin bestehe, anderen Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit zu signalisieren, sich somit die Unterstützung der Mitmenschen zu sichern und andere durch Mitgefühl an sich zu binden. Eine weitere Untersuchung mit Frauen, die vor Männern weinten, stützt diese Annahme. Ein Forscher fand heraus, dass die Tränen der traurigen Frauen chemische Stoffe enthalten, die auf Männer besänftigend wirken und ihnen zugleich signalisieren, dass die Frau derzeit keine Lust auf Sex hat. Als Folge fiel bei den beteiligten Männern der Testosteronspiegel und damit der Grad ihrer sexuellen Bereitschaft deutlich ab.

„Heulsusen“ versus „echte Kerle“

Auf der Suche nach den sozialen Funktionen des Weinens wurden auch noch weitere interessante Fakten entdeckt. So besteht bis zur Pubertät zwischen Jungen und Mädchen ein „Gleichgewicht der Tränen“, im Erwachsenenalter jedoch weinen Frauen etwa viermal häufiger als Männer. Neben der Häufigkeit – Frauen weinen im Jahr bis zu 64 Mal, Männer dagegen höchstens 17 Mal – unterscheiden sich Männer und Frauen auch bei den Gründen für Tränenausbrüche und in der Intensität ihres Weinens: Frauen weinen länger und schluchzen dabei gerne heftig und laut, meist, weil sie sich gerade unzulänglich, enttäuscht oder wütend fühlen, weil sie traurig oder gerade in einer Konfliktsituation sind. Bei Männern dagegen fließen in der Regel stumme Tränen, und wenn, dann vor allem bei frisch getrennten Männern oder aus Mitgefühl.

Eines steht wohl fest: Dass Frauen mehr weinen als Männer, liegt nicht an den Hormonen. Die Tränenproduktion hat erwiesenermaßen nichts mit Östrogenen, den weiblichen Geschlechtshormonen, zu tun. Also ist Weinen mit Sicherheit keine „Frauensache von Natur aus“. Vielmehr gehen Wissenschaftler davon aus, dass Weinen etwas mit den kulturellen und erworbenen Geschlechterrollen zu tun habe: Kleine Jungs „dürfen“ noch Tränen vergießen, während es männlichen Jugendlichen zunehmend abgewöhnt wird, Gefühle derart zu zeigen. Studien ergaben, dass für die meisten Männer Tränen bedeutungslos sind, dass viele sich das Weinen mit viel Selbstdisziplin regelrecht abtrainiert haben, um keine Schwächen zu zeigen, und dass die meisten nach dem Motto „Lieber handeln als heulen“ leben. Frauen dagegen erlaubt es ihre Sozialisation, ihre Gefühle durch Worte, Tränen und Gesten nach außen zu tragen.

Bloß keine Tränen zeigen!

Heißt das also, vor allem Frauen drückten gerne mal auf die Tränendrüse, um bei anderen Mitleid zu erregen und so geschont zu werden? Dem widersprechen wieder andere Studienergebnisse, die zeigen, dass die meisten Weinenden ihre Tränen lieber im stillen Kämmerlein als in aller Öffentlichkeit vergießen. In unserer Kultur ist es nicht nur Männern, sondern auch vielen Frauen peinlich, in der Öffentlichkeit zu weinen. Stärker noch als der Wunsch nach Mitgefühl und Zuwendung, den das Weinen ausdrücken kann, scheint unsere Sozialisation zu sein, die verlangt, dass wir uns in der Öffentlichkeit keine Blöße geben und möglichst „unemotional“ und stabil wirken. Tränen werden nicht nur hierzulande, sondern auch in vielen anderen Kulturen mit Schwäche, fehlender Durchsetzungskraft und – vor allem bei Männern – mit „Memmenhaftigkeit“ gleichgesetzt. Bekannt ist zum Beispiel ein afrikanischer Stamm in Nigeria, der sogar seine Babys kneift oder ihnen Klapse gibt, wenn sie weinen, damit sie sich das Heulen gleich abgewöhnen.

Auch wenn das bei uns zum Glück weit weniger extrem gehandhabt wird – in der Erwachsenenwelt gilt für die meisten: Wer heult, wird nicht ernst genommen. Schade, denn wer sich immer nur stark und unerschütterlich gibt, kann auch dann, wenn er es eigentlich bräuchte, nicht mit Trost und Mitgefühl rechnen. Deshalb ist öfter mal der Tipp durchaus angebracht: „Heul´doch!“

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Helga Boschitz
Autor: Helga Boschitz

Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.

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