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Paracetamol - ein (un)sicheres Analgetikum?

Kommentar schreiben Mittwoch, 16. September 2020

Erstmals synthetisiert in den 1870er Jahren1 und knapp 70 Jahre später auf den Markt gebracht2 entwickelte sich Paracetamol über die Jahrzehnte vom kaum beachteten Analgetikum zum einem der weltweit meist verkauften Arzneimittel. Während es zu Beginn der Corona-Pandemie regelrechten Hamsterkäufen ausgesetzt war, sorgte das Schmerzmittel einige Wochen später für negative Schlagzeilen. In den Niederlanden wurde in Paracetamol-Chargen, hergestellt in China, 4-Chloranilin (PCA) nachgewiesen. Für den Verbraucher eine weitere Hiobsbotschaft in Bezug auf ein altbekanntes und weit verbreitetes Pharmakon.

 

Es ist noch gar nicht lange her, da wurde Paracetamol, ähnlich wie Toilettenpapier, Mehl oder Hefe, zu Mangelware. Leere Lager bei Herstellern, Großhandel und Apotheken veranlassten Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zur Forderung, Paracetamol nur im akuten Behandlungsfall und in der dafür benötigten Menge abzugeben, falls es keine geeigneten therapeutischen Alternativen gibt.3 In Frankreich rationierte die Gesundheitsbehörde ANSM die freiverkäufliche Abgabemenge auf eine Packung pro Patient ohne Symptome wie Fieber oder Schmerzen. Betroffenen mit Symptomen wurden maximal zwei Packungen Paracetamol zugesprochen.4

 

Inhaltsverzeichnis

 

Paracetamol wird zu Mangelware

 

Auslöser der Engpässe war zunächst die Ankündigung Indiens Anfang März, die Ausfuhr von 26 Wirkstoffen und Arzneimitteln vorübergehend auszusetzen. Begründet wurde dieser Schritt mit einer Sicherstellung der Versorgung des indischen Marktes mit wichtigen Arzneimitteln während der Corona-Pandemie. Unter den betroffenen Pharmaka war neben einer Vielzahl von Antibiotika auch Paracetamol.5

 

Einige Tage später sorgten die mutmaßlichen Zusammenhänge zwischen der Einnahme von Ibuprofen und komplizierten COVID-19-Verläufen für Schlagzeilen; die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfahl bis zur Klärung des Sachverhalts die Einnahme von Paracetamol anstelle von Ibuprofen.6 Obwohl sie kurze Zeit später Entwarnung geben konnte, blieb die Verunsicherung in der Bevölkerung und der Drang sich mit „sicheren“ Alternativen einzudecken. Der Absatz von Paracetamol stieg in der Woche der Berichterstattung um mehr als das sechsfache: von 500.000 verkauften Packungen pro Woche in den Monaten vor der Pandemie, zu über drei Millionen Packungen in der Woche vom 16. bis zum 22. März.7

 

Im Podcast „Wirkstoff A“ schildert Dr. Hans-Peter Schulz wie er die damalige Zeit erlebte. Er ist seit Ende letzten Jahres Geschäftsführer der Bene-Arzneimittel GmbH. Das Münchner Unternehmen brachte erstmals im Jahr 1959 Paracetamol im Fertigarzneimittel Be-nu-ron auf den deutschen Markt. Auch heute noch produziert Bene in Deutschland, doch den Wirkstoff bezieht auch das bayerische Unternehmen aus dem Ausland - weltweit verteilt, um das Risiko wie es sich im Fall Indiens zeigte, zu minimieren. Obwohl Bene bereits im Februar Vorkehrungen getroffen hatte, hieß es im Frühjahr auch dort für einige Wochen: stock out.8

 

Verunreinigungen in Paracetamol gefunden

 

Kaum hatte sich in den folgenden Monaten die Lage wieder etwas entspannt, geriet das Analgetikum Anfang Juli erneut in den medialen Fokus. In den Niederlanden wurde in drei Paracetamol-Chargen 4-Chloranilin (PCA) nachgewiesen. Laut der niederländischen Zeitung „Nieuwe Rotterdamsche Courant Handelsblad“ (NRC) wurden diese im Frühjahr 2019 produziert - vom weltweit größten Paracetamol-Hersteller Anqiu Luàn Pharmaceuticals in China. 36 Millionen Tabletten könnten dem Bericht zufolge aus der betroffenen Menge Paracetamol hergestellt worden sein.9

Weltweit gibt es 12 Paracetamol-Hersteller, die ein sogenanntes Certificate of suitability of Monographs of the European Pharmacopoeia (CEP) besitzen. Fünf davon befinden sich in China, vier in Indien, je einer in der Türkei und Frankreich, und ein weiterer in den USA.10

 

Ein erteiltes CEP bescheinigt dem Hersteller, dass der Wirkstoff durch die Monographie des Europäischen Arzneibuchs (Ph. Eur.) ausreichend kontrolliert wird. Um das Zertifikat zur erlangen, müssen im Vorfeld eine genaue Beschreibung des Herstellungsprozesses und ein Profil möglicher Verunreinigungen eingereicht werden. Alle potentiellen Kontaminationen müssen durch ein im Ph.Eur. beschrieben Analyseverfahren nachgewiesen werden können. Auch wenn man nun den Eindruck bekommen könnte, mit einem zertifizierten Hersteller in Frankreich sei die europäische Paracetamol- Produktion gesichert, der täuscht. Die letzte französische Produktionsstätte schloss im Jahr 200811; auch Zertifikatsinhaber Novacyl - seit 2018 zum französischen Pharmaunternehmen Seqens gehörend - produziert in China.12

 

PCA-Fund überraschte nicht wirklich

 

Für die Experten Dr. Helmut Buschmann, Prof. Dr. Fritz Sörgel und Prof. Dr. Ulrike Holzgrabe ist der Fund von PCA aus wissenschaftlicher Sicht nicht unbedingt überraschend. In der Ausgabe 33/2020 der DAZ erörtern sie ausführlich verschiedenste chemische Szenarien, die die Begründung für die PCA-Verunreinigung in Paracetamol liefern könnten. Dennoch steht für sie außer Frage, dass PCA, ebenso wie Nitrosamine, nicht in Arzneimitteln gefunden werden sollten.13

 

Chloraniline werden häufig als Zwischenprodukte zur Herstellung von Pflanzenschutzmitteln, Farbstoffen und Arzneistoffen eingesetzt. Die toxischen Effekte von PCA gleichen derer des Anilins, allerdings weist PCA eine höhere Lipophilie auf und erfährt somit eine bessere Aufnahme in die Zellen. PCA wird für den Menschen als möglicherweise karzinogen eingestuft, diesbezügliche Untersuchungen liegen nicht vor. In Tierversuchen konnte ein Zusammenhang zwischen PCA und Tumoren in Leber und Milz hergestellt werden.14

 

Europäische Arzneibuch-Kommission gibt Entwarnung

 

PCA ist in der Paracetamol-Monographie nicht als Verunreinigung beschrieben, folglich wird auch nicht nach ihr gesucht. Umso verwunderlicher ist es, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gegenüber der DAZ verlauten ließ, dass PCA keine neue Verunreinigung in Paracetamol sei: „Die gemessenen Werte lagen alle unter den für Chloranilin in der Guideline ICH M7 festgelegten Grenzwerten für Humanarzneimittel. Chloranilin ist zudem keine neue Verunreinigung, sondern seit längerem bekannt – auch in Paracetamol.“15 Die Experten Buschmann, Sörgel und Holzgrabe fragen daher zu Recht: Wenn aber schon nationale Behörden diese Kenntnis haben, wie kann es dann passieren, dass solche Qualitätsmängel immer wieder berichtet werden?13

 

In Bezug auf die Kontaminationen in Paracetamol untersuchte die europäische Arzneibuch-Kommission (EDQM) die Chargen und Ursachen der Verunreinigung in Zusammenarbeit mit den betroffenen Herstellern. In ihrem abschließenden Bericht von Mitte August gaben sie Entwarnung: Die Sicherheit von Paracetamol ist nicht beeinträchtigt. Die Menge an 4-Chloranilin liege innerhalb der international vereinbarten tolerierten Grenzwerte.

 

Eine Menge von 34 µg pro Tag bezogen auf die Lebenszeit ist laut Richtlinie M7 der „International Conference of Harmonization (ICH) ungefährlich. Selbst bei Einnahme von 3000 mg Paracetamol am Tag liegt die Dosis nicht im toxischen Bereich.16 Nichtsdestotrotz weiß man, dass bei regelmäßiger Einnahme auch Mengen unterhalb der Grenzwerte zu langfristigen Schäden führen und die Wahrscheinlichkeit einer Krebserkrankung erhöhen können.

 

Paracetamol nur die Spitze des Eisbergs

 

Ob die Entwarnung der EDQM wirklich alle Zweifel ausräumen, kann ist fraglich. Offensichtlich liegt das Problem tiefer und der Fall Paracetamol ist möglicherweise nur die Spitze des Eisbergs. Schon im Zuge des Valsartan-Skandals im Jahr 2018 wurde auf „PharmTech.com“ hinsichtlich der Problematik von kanzerogenen Verunreinigungen in Arzneimitteln berichtet. Sachverständige äußerten die Meinung, dass diese Kontaminationen ein ganz allgemeines Problem darstellen. Ein Umstand, der in der Risikobewertung von Herstellern und Behörden nicht ausreichend berücksichtigt wird.

 

Die Experten befürchteten weniger eine Missachtung der GMP-Richtlinien als einen systematischen Fehler, auch auf behördlicher Ebene. Im veröffentlichen Artikel wird damals schon Paracetamol aufgeführt. Ein cGMP-Auditor äußerte demnach bereits 2018 seine Bedenken hinsichtlich des chinesischen Synthesewegs von Paracetamol. Seiner Erkenntnis nach sei eines der frühen Zwischenprodukte das wahrscheinlich karzinogene 1-Chlor-4-Nitrobenzol. Laut EMA-Leitlinie wird dies in vitro und in vivo als mutagen und genotoxisch angesehen. Seine Erkenntnis: „Wir haben die meisten großen chinesischen Paracetamol-Produktionsstätten überprüft und in keiner von ihnen eine Bewertung und einen Test auf 1-Chlor-4-Nitrobenzol gefunden“. Ein Regelverstoß kann den Herstellern im beschriebenen Fall jedoch nicht angelastet werden.17

 

Es stellt sich also die Frage: Hätte man in Hinblick auf Verunreinigungen auf regulatorischer Ebene bei Paracetamol und anderen Arzneimitteln schon lange genauer hinschauen müssen?

Das mediale Aufsehen um Paracetamol hat sich mittlerweile gelegt und die Abverkaufszahlen sich wieder auf einem Normalmaß eingependelt. Doch es ist wohl nur eine Frage der Zeit bis der nächste Arzneistoff die Medien beschäftigen wird.

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Linda Künzig
Autor: Linda Künzig

Linda Künzig, Apothekerin mit Weiterbildungen im Bereich Homöopathie und Naturheilverfahren. Neben ihrer Tätigkeit in einer öffentlichen Apotheke unterstützt sie seit Mai 2019 die Apomio-Redaktion als freie Autorin.

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