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Kleinwüchsigkeit: Leben in einer zu großen Welt

Kommentar schreiben Aktualisiert am 01. Juli 2020

Stellen wir uns doch mal vor, wir müssten in einer Welt leben, in der alles zu groß, zu hoch, zu schwer erreichbar ist. Stellen wir uns vor, wir wären Erwachsene, die sich aus der Perspektive eines Kindes durch ihren Alltag bewegen müssen – nur, dass dabei nicht, wie es bei kleinen Kindern der Fall ist, immer ein Erwachsener dabei ist, der einen bei Bedarf hochhebt oder anderweitig hilft. Schwer vorstellbar, oder? Auf Erwachsene mit Durchschnitts-Körpergrößen ist unsere ganze Welt ja schließlich perfekt zugeschnitten. Wie schwierig es ist, sich mit 1,25, 1,40 oder maximal 1,50 Meter Körpergröße durchs Leben zu bewegen, davon können kleinwüchsige Menschen ein Lied singen. Ständiges Strecken, Hochheben, Hochklettern gehört zu ihrem Alltag. Es gilt, im Privat- wie im Berufsleben ständig Hürden überwinden zu müssen. Kleinwüchsige brauchen also viel persönliche Stärke – aber auch Unterstützung und gesellschaftliche Akzeptanz.

 

Inhaltsverzeichnis:

 

 

Was versteht man unter Kleinwüchsigkeit?

 

Von Kleinwüchsigkeit spricht die Medizin, wenn – allgemein gesagt – ein Mensch deutlich kleiner ist, als es der altersmäßigen Norm entspricht. Es gilt als eine Art Faustformel: Wenn 97 Prozent der gleichaltrigen Menschen größer sind als ich, kann ich mich „kleinwüchsig“ nennen. Dabei wissen wir natürlich, dass Durchschnittsgrößen sich wandeln und somit relativ sind; auch Ärzte sind unterschiedlicher Ansicht, wann eine wirkliche Kleinwüchsigkeit beginnt oder jemand „nur“ ungewöhnlich klein ist. Die Zahlen variieren nach Geschlecht und auch je nach Quelle: Während beispielsweise „netdoktor.de“ bei Frauen die Grenze von 1,40 Meter und bei Männern 1,50 benennt, heißt es in der ARD-Sendung „Planet Wissen“, dass Frauen, die maximal 1,50 Meter werden und Männer, deren Körpergröße unter 1,65 Meter liegt, bereits kleinwüchsig seien. Liegt eine Kleinwüchsigkeit von unter 1,50 Meter zweifelsfrei vor, gilt die betroffene Person als behindert.

 

Diagnostiziert wird mittels bestimmter Messungen und bei entsprechendem Verdacht auf eine Ursache mittels entsprechender weitergehender Untersuchungen. Kleinwuchs kann angeboren sein oder sich durch verschiedene Ursachen erst entwickeln. Experten gehen davon aus, dass in Deutschland etwa 80.000 bis 100.000 kleinwüchsige Menschen leben. In einigen Fällen kann Kleinwuchs auch vorübergehend sein; es gibt Kinder, die eine Zeitlang erheblich kleiner sind als der Durchschnitt, diesen Rückstand aber im Lauf der Zeit wieder aufholen.

 

Verzögertes oder verkürztes Wachstum

 

Wie groß ein Mensch wird, das wird in erster Linie durch seine Gene bestimmt. Wer eher kleine Eltern hat, wird in der Regel nicht zu einem Riesen heranwachsen, umgekehrt gilt dies natürlich genauso. Daneben tragen aber auch Faktoren wie Ernährung, bestimmte Erkrankungen und die Zuwendung der Eltern und anderer Bezugspersonen zum Körperwachstum bei. Zur eher groben Berechnung der künftigen Größe eines Kindes wird aus den Längenmaßen der Eltern der Mittelwert errechnet, anschließend bei Mädchen davon rund sechs Zentimeter abgezogen, bei Jungen dagegen etwa sechs Zentimeter dazugerechnet. Genauer ist eine Röntgenuntersuchung, bei der die Reife der Knochen in der linken Hand gemessen wird.

 

Normalerweise wächst ein Mensch ab seiner Zeugung bis etwa zum 16. (bei Mädchen) bzw. 19. Lebensjahr (bei Jungen). Der größte Wachstumsschub findet natürlich in den ersten Lebensjahren statt – ein Baby wird in seinem ersten Lebensjahr um gut 25 Zentimeter größer, während ein junger Mensch in der Pubertät gerade noch maximal zehn Zentimeter pro Jahr wächst.

 

Maßgeblich bestimmt wird die Körpergröße vom Wachstum in den Extremitäten. Bei Kindern und Jugendlichen verlängern sich kontinuierlich die Röhrenknochen in Armen und Beinen, indem dort ständig neue Knochensubstanz aufgebaut wird. Gesteuert wird das Wachstum hauptsächlich von Hormonen. Diese Wachstumshormone – allen voran das wichtige Somatotropin, kurz GH für Growth Hormon – bringt Gewebezellen dazu, sich zu vergrößern und zu vermehren. Zudem „dockt“ GH an spezielle Kontaktstellen in der Leber an und sorgt dort für die Ausschüttung des „Insuline growth factors“ (IGF), eines Stoffes, der das Wachsen von Muskeln, Knochen und anderer Gewebe auslöst.

 

Viele Formen, viele Ursachen ...

 

Bei Kleinwüchsigkeit ist die normale Wachstumsgeschwindigkeit vermindert bzw. die Wachstumsdauer verkürzt – warum und in welcher Weise, das hängt ganz von Ursache und Form des Kleinwuchses ab. Der Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien (BKMF) spricht von etwa 650 verschiedenen Formen, die sich jeweils in verschiedene Kategorien einordnen lassen. Am deutlichsten lässt sich Kleinwüchsigkeit in die proportionierte oder die dysproportionierte Form unterscheiden. Bei ersterer sieht ein Mensch im Grunde genauso wie der Durchschnitt aus, wobei alle Körperteile einfach kleiner sind als die Norm. Beim dysproportionierten Kleinwuchs sind nur einzelne Körperteile kleiner oder verkürzt, etwa die Extremitäten.

 

Häufig, aber nicht immer, ist der Kleinwuchs auch mit gesundheitlichen Einschränkungen und Risiken verbunden. Die jeweilige Prognose richtet sich nach der Erkrankung, die hinter dem Kleinwuchs steckt. Bestimmte Formen überlasten ständig die Gelenke, was zu deren verstärktem und verfrühtem Verschleiß und zu teils starken chronischen Schmerzen führen kann. Auch die Beweglichkeit ist häufig eingeschränkt. Manche schwere Formen bringen sogar eine verkürzte Lebenserwartung mit sich. Auch Organe können leiden – das liegt daran, dass die Fläche der Haut im Verhältnis zum Körper relativ groß ist, sodass der Körper mehr Wärme verliert und deswegen mehr Energie braucht. Das heißt, dass Herz und Lunge verstärkt arbeiten müssen.

 

... und ganz unterschiedliche Schweregrade

 

Ebenso wie die Erscheinungsformen sind auch die möglichen Ursachen für Kleinwuchs zahlreich – mehrere hundert sind es auf jeden Fall. Danach richtet sich dann natürlich eine eventuelle Behandlung – in seltenen Fällen werden erfolgreich Wachstumshormone angewendet, ansonsten bleibt meist nur die Behandlung vorhandener Krankheitssymptome, oft in Verbindung mit psychologischer Unterstützung.

 

Weitgehend unbekannt ist die Ursache des sogenannten idiopathischen Kleinwuchses, der bei Weitem häufigsten Form. Sie tritt ohne ursächliche oder begleitende Erkrankung allein auf und liegt besonders oft bei Kleinwüchsigkeit vor, die sich gehäuft in einer Familie zeigt. Der idiopathische Kleinwuchs wird im Übrigen nicht als Krankheit betrachtet.

 

Hier noch ein Überblick über die Erkrankungen und Störungen, die am häufigsten zu einer Kleinwüchsigkeit führen:

 

Skelettdysplasien

Zu den sogenannten Skelettdysplasien gehören die Achondroplasie und die weniger schwer verlaufende Hypochondroplasie; bei beiden Formen ist das Knochenwachstum in Armen und Beinen gestört. Eine Verkürzung der Extremitäten ist die Folge, wobei die Knochen eine normale Dicke haben und der Rumpf eine fast normale Länge hat. Die Achondroplasie zeigt sich typischerweise mit einem überproportional vergrößerten Kopf. Eine weitere zu Kleinwüchsigkeit führende Skelettdysplasie ist die als „Glasknochenkrankheit“ bekannte Osteogenesis imperfecta. Sie tritt in verschiedenen Schweregraden auf. Hierbei führt eine Störung im Kollagenhaushalt der Knochen zu deren verstärkter Brüchigkeit.

 

Chromosomenstörungen

Bei bestimmten Störungen innerhalb des menschlichen Erbguts kommt es zu einer Abweichung von der üblichen Anzahl der Chromosomen (normalerweise 46) oder zu anderen Fehlern. Dann treten bestimmte „syndromale“ Erkrankungen auf, die auch Kleinwüchsigkeit zur Folge haben können. Die bekannteste dieser Störungen ist sicherlich das Down-Syndrom (Trisomie 21), daneben gehören u.a. auch das Noonen-Syndrom und das Prader-Willi-Syndrom zu dieser Gruppe.

 

Endokrine (hormonelle) Erkrankungen

Darunter fallen bestimmte hormonelle Störungen, vor allem ein Mangel am Wachstumshormon Somatotropin (GH), aber auch z.B. eine Schilddrüsenunterfunktion mit einer verminderten Produktion der wachstumsfördernden Schilddrüsenhormone T3 und T4. Auch kann das sogenannte Cushing-Syndrom, bei dem sich zu viel Cortisol im Körper befindet, das gesunde Wachstum einschränken.

 

Erkrankungen bestimmter Organe und Stoffwechselstörungen

Zu dieser Gruppe zählen vor allem Herz-, Lungen-, Leber-, Nieren- und Darmerkrankungen und Störungen des Fett-, Protein-, Kohlenhydrat- und Knochenstoffwechsels.

 

Ernährungsstörungen 

Nicht selten kommt es vor, dass der Körper während der Wachstumsphase Nährstoffe nicht richtig aufnehmen und verwerten kann, was mitunter auch Kleinwüchsigkeit verursacht. Zu einer solchen sogenannten Malabsorption führen typischerweise chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie der bekannte Morbus Crohn, aber auch die Zöliakie (Gluten-Unverträglichkeit).

 

Intrauteriner Kleinwuchs

Der intrauterine (= in der Gebärmutter entstandene) Kleinwuchs liegt vor, wenn ein Kind bereits kleinwüchsig geboren wird. In diesem Fall hat sich das Wachstum des Babys im Mutterleib verzögert. Das kann z.B. daran liegen, dass die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken, schädliche Medikamente eingenommen oder geraucht hat. Der intrauterine Kleinwuchs ist meist vorübergehend – das Kind holt den Rückstand auf und hat in der Regel nach spätestens zwei Jahren eine normale Größe erreicht. Anders sieht es beim sogenannten Silver-Russell-Syndrom aus, einer besonderen Form des intrauterinen Kleinwuchses. Kinder, die mit diesem Syndrom auf die Welt kommen, sind besonders klein und wiegen meist nicht mehr als ca. zwei Kilogramm. Besonders auffällig ist ihr großer Kopf mit dreieckigem Gesicht und spitzem Kinn. Meist werden diese Kinder später maximal 1,40 bis 1,50 Meter groß.

 

Psychosoziale Ursachen

Bei der Erforschung möglicher Ursachen von Kleinwuchs sollte man die Umstände, in denen das betroffene Kind aufwächst, nicht vergessen. Wird ein Kind emotional-psychisch vernachlässigt, entwickelt es häufig eine sogenannte „psychische Deprivation“ und wächst nicht normal heran. Dasselbe kann infolge von Essstörungen oder kindlichen Depressionen geschehen. Wenn sich ihr Umfeld verbessert bzw. die Ursachen behandelt werden und man sich gut um sie kümmert, wachsen diese Kinder meist von selbst wieder weiter.

 

 

Alltägliche Kraftakte

 

Dass kleinwüchsige Menschen in ihrem Alltag ständig vor teils massiven Herausforderungen stehen und wahre Kraftakte leisten müssen, liegt auf der Hand. In allem haben sie sich einer Welt anzupassen, die nicht auf sie zugeschnitten ist. Tag für Tag gilt es, die fehlenden 30 bis 50 Zentimeter auszugleichen. Auto, Supermarktregale, Geldautomaten, Türklingeln bis hin zu Waschbecken und Toiletten in den eigenen Wohnungen – nichts passt, vieles ist zu hoch, zu weit weg, zu schwer. „Man muss sehr kreativ sein, um diese Barrieren auszugleichen“, sagt Beate Twittenhoff vom Bundesselbsthilfeverband kleinwüchsiger Menschen in einem Video des Magazins „fluter“ der Bundeszentrale für politische Bildung*. Vieles muss umgebaut oder angepasst werden – und allzu oft führen Betroffene jahrelange Kämpfe um Unterstützung seitens Behörden und Krankenkassen.

 

Nicht zu vergessen die Kämpfe gegen Vorurteile, Ignoranz, ja sogar Anfeindungen „normal gewachsener“ Menschen. Herabwürdigende und diskriminierende Begriffe wie „Minderwuchs“ oder Zwerg und völlig abwegige Betitelungen wie „Liliputaner“ sind zwar aus dem offiziellen Sprachgebrauch, nicht aber aus den Köpfen aller Menschen verschwunden. Kein Wunder also, dass Menschen wie Beate Twittenhoff sich organisieren, für mehr Aufklärung, Akzeptanz und Unterstützung werben: „Die Welt ist bunt, jeder Mensch ist anders“, sagt die kleinwüchsige Frau, „und jeder sollte die Möglichkeit haben, ein eigenständiges Leben zu führen, mit den entsprechenden Hilfen, die er oder sie braucht.“

 

 

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Helga Boschitz
Autor: Helga Boschitz

Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.

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