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100 Menschen, 100 Wahrnehmungen – oder: Ich sehe was, was du nicht siehst!

Kommentar schreiben Aktualisiert am 18. September 2019

Das kennen Sie auch, oder? Sie sind mit einer Freundin unterwegs und treffen einen Menschen, der einen für Sie wunderbaren Duft verströmt. Beim Weitergehen rümpft Ihre Freundin die Nase und beschwert sich, wie unangenehm der Typ gerochen hat. Dabei haben Sie doch beide ein und dasselbe Eau de Toilette geschnuppert! Ganz klar: Ob es nun um Gerüche geht, um Geschmäcker, Farben oder andere Sinneseindrücke – Wahrnehmung ist nie gleich Wahrnehmung. Jeder Mensch verarbeitet und bewertet Eindrücke von außen anders. Doch was ist das eigentlich: Wahrnehmung? Und warum läuft sie nie nach „Schema F“ ab?

 

Wahrnehmung ist der Überbegriff für alle Sinneseindrücke – also für Eindrücke und Reize „von außen“, die wir mit allen Sinnen (genauer: über die Rezeptoren unserer Sinnesorgane) aufnehmen und über unser Gehirn zu Informationen interpretieren und verarbeiten. Wir Menschen nehmen Eindrücke über unterschiedliche Kanäle wahr. Im Wesentlichen gibt es die

 

  • auditive Wahrnehmung, also das Hören
  • visuelle Wahrnehmung, das Sehen
  • taktile Wahrnehmung, also die Wahrnehmung über die Haut (sie realisiert Berührungen, Temperatur, Härte/Weichheit und Druck)
  • olfaktorische Wahrnehmung, das Riechen
  • gustatorische Wahrnehmung, das Schmecken
  • vestibuläre Wahrnehmung, auch als „Gleichgewichtssinn“ bezeichnet.

 

Darüber hinaus sind wir Menschen auch fühlende Wesen und verfügen damit auch über die Sensibilität. Diese läuft jedoch, anders als die anderen Wahrnehmungen, nicht über ein bestimmtes Sinnesorgan, sondern über den gesamten Körper, d.h. über ein komplexes Netz aus Nervenenden und Rezeptoren.

 

Was passiert beim Wahrnehmungsprozess?

 

Wahrnehmung kommt zustande, sobald unsere Sinnesorgane einen Reiz, einen Impuls (also z.B. einen Duft, ein Geräusch, einen Geschmack, ein Bild oder auch einen Windhauch, der über unsere Haut streicht) aufnehmen. Jeden dieser Reize bzw. Impulse transportieren wir über das jeweilige Sinnesorgan oder die Nerven sofort ans Gehirn. Dabei sind mit „Gehirn“ ganz unterschiedliche Hirnareale gemeint, die an der Wahrnehmung beteiligt sind, je nachdem, über welchen Sinn der Eindruck aufgenommen wurde.  

 

Die Wahrnehmung läuft zwar bei jedem Menschen nach einem ganz bestimmten Schema ab, das Ergebnis des Wahrnehmungsprozesses ist jedoch immer offen. Zunächst wird jeder aufgenommene Reiz eher allgemein ausgewertet. In dieser ersten Phase der Wahrnehmung werden noch keine Einzelheiten, sondern ein Gesamteindruck festgestellt, also z.B. ein Wald, aber keine einzelnen Bäume. Details werden erst in der anschließenden Phase des Wahrnehmungsprozesses erkannt – je einprägsamer sie sind, desto genauer werden sie „abgespeichert“.

 

Erst jetzt wird es eigentlich spannend, denn nun beginnt die individuelle Phase der Wahrnehmung, die sogenannte elaboratorische Auswertung, in der es zu einer höchst persönlichen Deutung und Bewertung des Sinneseindruckes und zur Reaktion auf ihn kommt. Wir vergleichen den empfangenen Reiz mit unseren Erinnerungen und Erfahrungen, setzen ihn in einen erfahrungs- und wissensabhängigen Zusammenhang, verstehen ihn und beurteilen ihn schließlich ganz individuell, bevor wir dementsprechend auf ihn reagieren.

 

Welche Faktoren beeinflussen unsere Wahrnehmung?

 

Dass Menschen Dinge so unterschiedlich wahrnehmen und beurteilen, liegt – allgemein gesagt – daran, dass wir Dinge niemals kontextunabhängig wahrnehmen. Und dieser Kontext sieht natürlich bei jedem Menschen anders aus. Er wird gebildet durch individuelle (Lebens-)Faktoren wie Herkunft und Erziehung, Persönlichkeit, Erfahrung, Wissen und Gewohnheiten. Zudem kommt es darauf an, wie stark der jeweilige Sinneseindruck ankommt.

 

Jeder Mensch hat eine individuelle, eher höhere oder eher niedrige Reizschwelle. Jemand, der in einem einsamen Haus im Wald lebt, reagiert auf den Lärm und Trubel städtischen Lebens sehr viel empfindlicher als jemand, der an einer Straßenkreuzung einer Großstadt lebt.

Letzterer wird zwar z.B. das laute Hupen eines vorbeifahrenden LKW wahrnehmen, aber das Rauschen der vielen anderen Fahrzeuge schon gar nicht mehr bemerken – und insgesamt wenig Probleme haben, beispielsweise in einem Straßencafé zu sitzen und trotz der lauten Umgebung seinen Kaffee zu genießen und sich mit jemandem zu unterhalten. Der Waldbewohner wird dagegen den Straßenlärm als großen Stress empfinden.

 

Daneben spielen auch Sympathien und Antipathien sowie Interessen eine große Rolle für die Bewertung einer Wahrnehmung – ein Musikwissenschaftler wird 12-Ton-Musik sicherlich mit großem Genuss hören, während ein musikalisch wenig gebildeter, „einfacher“ Musikhörer diese wahrscheinlich grauenhaft findet.

 

Erworbene, kurzfristige und angeborene Faktoren       

 

Wie wir Dinge wahrnehmen und verarbeiten, dafür sind auch weitere Gegebenheiten maßgeblich, etwa die gesellschaftlich-kulturelle Prägung (die Bewertung eines bestimmten Eindrucks hängt davon ab, was in der prägenden Kultur z.B. als schön und was als hässlich empfunden wird) oder kurzfristige Faktoren wie z.B. das momentane Befinden (z.B. wird eine Pizza als attraktiver bewertet, wenn derjenige, der sie sieht, gerade furchtbar hungrig ist).

 

Dazu gibt es angeborene Faktoren, die unsere Wahrnehmung weitgehend unbewusst steuern. Einer davon, den wohl jeder kennt, ist das so genannte „Kindchenschema“. Es besagt, dass ein rundes Gesicht mit großen Augen, kurze Extremitäten und andere typisch „kindliche“ Eigenschaften grundsätzlich Zuneigung und liebevolle Zuwendung, Fürsorge und Empathie auslösen. Daher reagieren so gut wie alle Menschen spontan positiv auf Babys, Hundewelpen und andere kleine Tiere.1 2

 

Warum erliegen wir Sinnestäuschungen?

 

Ebenfalls angeboren sind die Strukturen, die in den so genannten „Gestaltgesetzen der Wahrnehmung“ wirken. Diese Gestaltgesetze kommen im Bereich des Designs, aber auch in der Gestaltpsychologie zur Anwendung. Eines der wichtigsten ist das Gestaltgesetz der Prägnanz oder Gesetz der guten Gestalt. Es entspricht der Tendenz der menschlichen Wahrnehmung, optische Eindrücke in möglichst einfachen Gestalten abzubilden. Wenn wir z.B. ein Bild sehen, bei dem ein Dreieck und ein Rechteck übereinandergelegt sind, ohne dass ihre Konturen erkennbar sind, erkennen wir statt der abstrakten Form, die so entsteht, immer ein Dreieck und Rechteck, die überlappen.3

 

Ein weiteres mächtiges Gestaltgesetz ist das Gesetz von Figur und Grund. Die Gestaltpsychologie geht davon aus, dass die menschliche Wahrnehmung optische Sinneseindrücke in die Kategorie „Figur“ oder die Kategorie „Grund“ einordnet. Es wird verwirrend, wenn wir Figur und Grund nicht eindeutig unterscheiden können, wie wir das aus den bekannten „Kippfiguren“ kennen.

 

Diese bestehen grundsätzlich aus schwarzen oder weißen Farbflächen konzentriert, die jeweils ein anderes Bild ergeben, z.B. der symmetrische schwarze Pokal vor weißem Grund oder die beiden weißen Gesichtsprofile vor schwarzem Grund. Die Wahrnehmung schwankt zwischen beiden Eindrücken hin und her. Vermutlich werden die meisten Menschen erst einmal den Pokal wahrnehmen, da wir u.a. dazu neigen, symmetrische und nach außen gewölbte Formen als Figur wahrzunehmen.3 4 Doch ob wir nun eher den Pokal oder die beiden Profile sehen, hängt auch von vielen anderen Umständen ab und kann nicht eindeutig begründet werden.

 

Die angeborenen Strukturen der Gestaltgesetze steuern ganz erheblich unseren  Wahrnehmungsprozess – und sorgen auch dafür, dass wir uns immer wieder von unserer Wahrnehmung narren lassen, selbst wenn wir wissen, dass die Realität „eigentlich“ anders aussieht.

 

Lecker ist nicht gleich lecker – und blau ist nicht gleich blau

 

Was die genannten Faktoren aber noch nicht erklären: Wie kommt es, dass unterschiedliche Menschen z.B. auf Geschmack oder Geruch ganz unterschiedlich reagieren – und sogar Farben unterschiedlich wahrnehmen (Merke: Blau ist längst nicht für jeden Blau!)?

 

Fangen wir mal mit den unterschiedlichen Geschmäckern an. Das Online-Wissensportal „Was ist was“ erläutert in einem Artikel die Gründe, die für den Geschmack eines Menschen verantwortlich sind. Demnach haben Forscher festgestellt, dass der Geschmack ganz wesentlich von der Lebensweise bestimmt wird, also z.B. vom Kulturkreis, in dem z.B. üblicherweise sehr scharf oder sehr mild gegessen wird.5

 

Außerdem spielt wohl auch die genetische Veranlagung eine große Rolle. Manche Menschen haben „von Haus aus“ einen besonders ausgeprägten Geschmackssinn, da sie über mehr Geschmacksknospen als andere verfügen. Das heißt, sie empfinden Süßes, Saures, Scharfes usw. besonders intensiv. Auch das, was wir mögen, ist nach Ansicht von Wissenschaftlern vornehmlich erblich bedingt. Und nicht zuletzt sind Erinnerungen ganz wichtig für den eigenen Geschmack. Wer kennt das nicht: Haben einen die Eltern früher gezwungen, Spinat zu essen, obwohl er einem verhasst war, wird man wohl sein Leben lang kein Spinatfan mehr.5

 

Was nun die unterschiedliche Wahrnehmung von Farben betrifft, wird es schon etwas komplizierter. Wie in der ARD-Sendung „W wie Wissen“ erklärt wird, erkennen wir Farben durch Lichtwellen, die auf Fotorezeptoren (= Lichtrezeptoren) im Auge treffen und diese stimulieren. Daraus schließen Netzhaut und Gehirn dann jeweils auf eine bestimmte Farbe. 6

 

Dass es individuelle Unterschiede bei der Farbwahrnehmung geben kann, führen Wissenschaftler auf Unterschiede im Bau des Auges zurück. Üblicherweise verfügt das menschliche Auge über drei Typen von Fotorezeptoren, die allerdings ganz verschieden verteilt sind und sich in ihrer Empfindlichkeit deutlich unterscheiden können. Manchmal sorgt die individuelle „Augenausstattung“ dafür, dass ein Mensch bestimmte Farbspektren nicht auseinanderhalten kann. Bei der Rot-Grün-Schwäche wurde herausgefunden, dass bestimmte Fotorezeptor-Typen gar nicht im Auge vorhanden sind.6

 

Wahrnehmung lässt sich trainieren

 

Wahrnehmung ist also etwas höchst Individuelles. Was wir wie intensiv wahrnehmen, hängt auch ganz entscheidend von unserer Aufmerksamkeit ab und davon, worauf wir gerade unsere Konzentration richten. Wer kennt sie nicht, die scheinbar völlig losgelösten „verstöpselten“ Menschen, die, ganz in die Informationen aus ihrem Smartphone vertieft, geradezu traumwandlerisch durch den Straßenverkehr laufen. Sie bekommen so gut wie gar nichts von ihrer Umwelt mit. Dagegen ist das Thema „Achtsamkeit“ ja seit längerem in aller Munde. Kurse bringen uns bei, wie man bewusst und achtsam eine Rosine isst, den Wald erlebt oder sich in der Kommunikation mit anderen verhält.

 

Will heißen: Wahrnehmung lässt sich trainieren. So haben Wissenschaftler des Max Planck Instituts für Hirnforschung in Frankfurt am Main hinsichtlich der visuellen Wahrnehmung belegt, dass sich sogar die bewusste und unbewusste Wahrnehmung optischer Eindrücke durch gezieltes Training verändern lässt.7

 

Fazit: Schärfer wahrnehmen – schöner leben!

 

Doch auch ganz unwissenschaftlich lohnt es sich mit Sicherheit, die eigene Wahrnehmung zu schärfen, Eindrücke über alle Sinne konzentrierter und damit bewusster aufzunehmen. Wer seine Sinne entsprechend trainiert – sei es in Achtsamkeits-Seminaren oder auch nur dadurch, dass er öfter mal ganz konzentriert, ohne jede Ablenkung durch seine Umgebung geht – , wird gewaltige Unterschiede feststellen.

 

Vieles wird intensiver schmecken, riechen, klingen. Das muss nicht immer schön sein, denkt man z.B. an den intensiv „duftenden“ verschwitzten Sitznachbarn in der U-Bahn. Doch häufiger ist die achtsame Wahrnehmung ein Gewinn: Sei es ein feines Essen, der würzige Duft des Waldes nach einem Regen oder was wohlig-weiche Gefühl der Kuscheldecke auf der Haut – all das noch intensiver zu erleben, macht das Leben reicher. Probieren Sie´s mal aus

 

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Helga Boschitz
Autor: Helga Boschitz

Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.

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