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Spahn beschafft Arzneimittel & Co. auf eigene Faust

Kommentar schreiben Dienstag, 28. April 2020

In Zeiten der Coronaepidemie scheint seit Ende Januar 2020 in Deutschland nichts mehr sicher. Auch die Apothekenpflicht und andere Apothekenbefugnisse werden aktuell im Zuge der Bedrohung durch das SARS-CoV-2 seitens des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) ausgesetzt. Laut BMG-Presserererat dient die neue Verordnungsinitiative „MedBVSV – Medizinischer Bedarf Versorgungssicherstellungsverordnung“ der dringlichen Beschaffung persönlicher Schutzausrüstung, Desinfektionsmittel, OP-Handschuhe, Beatmungsgeräte, Arzneimittel und späterhin Impfstoffe. In den Beschaffungsprozess sind verschiedene nationale und internationale Partner involviert.

Das Bundesgesundheitsministerium verhält sich seit Januar keineswegs bloß untätig beobachtend, sondern initiiert gehäuft Gesetze, Eilverordnungen und Anordnungen in Bezug auf die neuartige Lungenerkrankung COVID-19.

 

Ende Januar weitete das BMG per Eilverordnung die Meldepflicht auf Coronavirusinfektionen aus, Mitte Februar wurde ein Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz des BMG beschlossen. Anfang April wurden nun zwei Referentenentwürfe des BMG zu weiteren geplanten Neuverordnungen veröffentlicht: Ziel der Maßnahmen ist es, die Arzneimittelversorgung in Deutschland im Umgang mit dem Erreger SARS-CoV-2 vereinfachen.1 

 

Inhaltsverzeichnis

 

Bis März 2021: BMG setzt Apothekenpflicht für Krisenbedarf aus

 

Eine der beiden Verordnungen, die Medizinischer Bedarf Versorgungssicherstellungsverordnung (MedBVSV), soll in erster Linie „die Versorgung der Bevölkerung mit Produkten des medizinischen Bedarfs in der derzeitigen epidemischen Lage von nationaler Bedeutung“ sichern.2  Damit kann die Bundesregierung unter anderem im Alleingang – sprich: unabhängig vom Apothekenvertrieb – notwendigen medizinischen Bedarf  bevorraten und verteilen. Unter anderem kann die Bundesregierung Arzneimittel, Wirkstoffe und Ausgangsstoffe, Desinfektionsmittel, Medizinprodukte (Kanülen), Labordiagnostika, persönliche Schutzausrüstung (Kittel, Schutz- und OP-Masken, Handschuhe) und intensivmedizinische Infrastruktur (Beatmungsgeräte) zentral bestellen und bevorraten.3

 

Dafür wird unter anderem die Apothekenpflicht ausgesetzt, indem §43 zur Apothekenpflicht im Arzneimittelgesetz (AMG) ausgesetzt wird und §4 zum alleinigen Bezug von Arzneimitteln durch Apotheken und Großhändler in der Arzneimittelhandelsverordnung. Wörtlich heißt es:

 

„Die §§ 8 Absatz 3, 10, 11, 11a, 13, 20b und 20c, 21 Absatz 1, 21a, 43, 47 bis 50, 55 Absatz 8, 72 bis 73a, 78, 84 und 94 des Arzneimittelgesetzes und die §§4a Absatz 1 und 6 Absatz 1 der Arzneimittelhandelsverordnung finden auf nach § 2 Absatz 1 beschaffte Arzneimittel sowie Wirk-, Ausgangs- und Hilfsstoffe keine Anwendung.“4

 

§2 der MedBVSV klärt auf, für welchen beschafften „medizinischen Bedarf“ einschließlich von Arzneimitteln die Befugnis gilt:

 

„Das Bundesministerium sowie das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat und das Bundesministerium der Verteidigung können Produkte des medizinischen Bedarfs selbst oder durch beauftragte Stellen beschaffen, lagern, herstellen und in den Verkehr bringen.“ 5

Hintergrund dieser sehr breiten Befugnis für das Bundesgesundheitsministerium, Innenministerium und Verteidigungsministerium waren Angebote deutscher, international operierender Unternehmen. Die Firmen boten der Regierung offenbar an, diese bei der Beschaffung notwendiger persönlicher Schutzausrüstung und Medizinprodukte zu unterstützen.5b

 

Jedoch musste die Bundesregierung die Unternehmen hierfür zunächst vom Haftungsrisiko befreien. Deshalb hebelt die MedBVSV nun auch §84 zur Gefährdungshaftung im Arzneimittelgesetz aus. Der Passus verpflichtet sonst pharmazeutische Unternehmen, den Schaden durch ein Arzneimittel zu ersetzen. Zudem regelt die MedBVSV, dass pharmazeutische Unternehmer in der aktuellen Krise nur nach § 7 Absatz 2 der AMG-Zivilschutzausnahmeverordnung haften, wonach Unternehmer nicht für Arzneimittel haften, die „als Reaktion auf die vermutete oder bestätigte Verbreitung von pathogenen Erregern in Verkehr gebracht werden.“6 

 

Wie lange soll die MedBVSV-Verordnung gelten?

 

Die außerordentlichen Befugnisse des Bundesgesundheitsministers sollen bis zur Aufhebung der „Feststellung der epidemischen Lage mit nationaler Tragweite“ durch den Bundestag gelten - maximal bis zum 31. März 2021.7 Mit der klaren Befristung offenbart sich die Verordnung als „Sonderbefugnis“ der Bundesregierung respektive des Bundesgesundheitsministeriums, die sich zweckorientiert auf die derzeitige gesundheitliche Notlage bezieht. Einzustufen ist die neue Verordnung damit als sogenannte „Ministerverordnung“. Minister müssen solche Verordnungen bloß unterschreiben und können sie anschließend sogleich verkünden, ohne Zustimmung des Bundesrats.

 

Was erlaubt die MedBVSV im Einzelnen?

 

Das MedBVSV erlaubt damit gemäß Referentenentwurf künftig Ausnahmen, um medizinischen Bedarf aus dem Ausland unkompliziert nach Deutschland zu importieren. Damit kann Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) prinzipiell in viele Prozesse auf dem deutschen Arzneimittelmarkt eingreifen – von der Herstellung bis zur Abgabe eines Medikaments. Die Befürchtung, dass Spahn umfassend die Aufgaben von Apotheken aushebeln möchte, um Kompetenzen an sich zu binden, kann wohl ausgeräumt werden.

 

Für Endverbraucher steigt mit den aufgehobenen Paragraphen zwar das Risiko, dass sich bei den zentral beschafften Produkten des medizinischen Bedarfs Sicherheitsmängel zeigen. Beispielsweise dürfen bis zur Aufhebung der Regelungen im Ausland beschaffte Arzneimittel auch ohne deutschsprachige Kennzeichnung und Gebrauchsanweisung angewendet und langwierige Sicherheits- und Qualitätsprüfungen vor der Zulassung eines Arzneimittels verkürzt werden. Auf der anderen Seite werden die Vorschriften des Arzneimittelgesetzes aus berechtigtem Grund ausgesetzt: in einer lebensbedrohlichen Situation und epidemischen Lage durch das Coronavirus SARS-CoV-2, ist die Regierung zum Handeln aufgerufen. Der flächendeckenden Knappheit von Arzneimitteln und Medizinprodukten gegen die Erkrankung COVID-19 wird mit den Ausnahmevorschriften der MedBVSV entgegengewirkt.

 

Außerdem gibt die neue Richtlinie die Abgabe von bislang nicht zugelassenen Medikamenten und Schutzausrüstung zwingend in die Hände eines Arztes oder eines Apothekers und ordnet an, dass ihre Qualität und ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis sicherzustellen bleiben:

 

„Die Abgabe eines nach § 2 Absatz 1 beschafften, nicht oder nicht zur Vorbeugung oder Behandlung der durch das neue Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Krankheit (…) zugelassenen Arzneimittels ist nur zulässig, wenn die Qualität des Arzneimittels gewährleistet ist und (...) ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis zur Vorbeugung oder Behandlung erwarten lässt.“8

 

§3 der MedBVSV9 regelt unter anderem folgende Ausnahmen vom Arzneimittelgesetz (AMG) für von der Regierung bestellten medizinischen Bedarf:

 

1. Bereits abgelaufene Arzneimittel dürfen nicht in den Verkehr gebracht werden. (§ 8)

2. Fertigarzneimittel mit nichtdeutschen Arzneimittelkennzeichnungen dürfen nicht in den Verkehr gebracht werden. (§10)

3. Fertigarzneimittel müssen eine Gebrauchsinformation enthalten. (§11)

4. Fertigarzneimittel müssen Fachinformationen für Fachkreise bieten. (§11a)

5. Arzneimittelhersteller benötigen eine behördliche Herstellungserlaubnis. (§13)

6.  Nur von der Bundesoberbehörde zugelassene Fertigarzneimittel dürfen in den Verkehr gebracht werden. (§21)

7. Apothekenpflichtige Arzneimittel dürfen nicht außerhalb von Apotheken in den Verkehr gebracht werden. (§43)

8. Pharmazeutische Unternehmer dürfen Arzneimittel nur an Kreise aus Medizinern, Pharmazeuten oder pharm. Unternehmen abgeben. (§§47-50)

9. Arzneimittel müssen zwingend nach anerkannten pharmazeutischen Regeln hergestellt werden. (§55)

10. Für die Arzneimitteleinfuhr nach Deutschland bedarf es einer behördlichen Erlaubnis und einer Zulassung oder Registrierung der Arzneimittel. (§§72-73a)

12. Preise und Preisspannen werden vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit festgelegt. (§78)

13. Der pharmazeutische Unternehmer ist bei Tod oder Verletzung durch Arzneimittel schadenspflichtig. (§84)

14. Der pharmazeutische Unternehmer muss Vorkehrungen zur Gewährleistung des Schadensersatzes treffen. (§94) 10

 

Daneben gewährt die MedBVSV weitreichende Ausnahmen für das Inverkehrbringen, die von der Arznei- und Wirkstoffverordnung abweichen.11 Die Arznei- und Wirkstoffverordnung regelt üblicherweise die „Gute Herstellungspraxis“ (GMP), wonach qualitätssichernde Herstellungsverfahren für EU-Arzneimittel gelten, etwa Dokumentations-, Hygiene- und Lagerungspflichten.

 

Welcher Art die Abweichungen von der „Guten Herstellungspraxis“ für EU-Arzneimittel genau sein dürfen, lässt §4 der MedBVSV offen – und gibt der Regierung damit breiten Handlungsspielraum. Zudem erlaubt die MedBVSV, dass Schutzausrüstung nach US-amerikanischen, kanadischen, japanischen und australischen Standards hierzulande pauschal angeboten werden dürfen.12 Die Altersgrenzen für Blut- und Plasmaspenden wurden auf 17 Jahre bis 70 Jahre ausgeweitet, als weitere Voraussetzung gilt, dass Spender künftig 14 Tage symptomfrei nach einer grippeähnlichen Erkrankung sein müssen.13

 

Regierung: Dringliche Beschaffung von medizinischem Bedarf

 

Auf Anfrage teilte eine Referentin des Bundesgesundheitsministeriums mit, dass ihr Ministerium bis Ostern rund 80 Millionen Schutzmasken nach Deutschland gebracht habe.14 Darüber hinaus habe das BMG bis zur 14. Kalenderwoche über 8 Mio. FFP2-Masken, knapp 400.000 FFP2-Masken, über 25 Mio. OP-Masken und knapp 22 Mio. Handschuhe bestellt und an die Länder verteilt: „Die Liefersicherheit ist trotz vertraglicher Bindung häufig nicht sehr hoch. Daher sind Prognosen hinsichtlich zukünftiger Lieferungen immer mit einer gewissen Unsicherheit verbunden“, äußerte sich die BMG-Referentin zur künftigen Beschaffungssituation.15

 

Darüber hinaus hat das BMG offenbar gegen Ende März die zentrale Beschaffung von Medikamenten für Patienten mit schweren COVID-19-Verläufen eingeleitet, darunter das coronawirksame Therapiemittel Chloroquin sowie das antivirale HIV-Mittel Kaletra (Lopinavir, Ritonavir) und die Arzneimittel Avigan (Favipiravir) und Foipan (Camostat).16

 

So geht das BMG für Beschaffungen konkret vor

 

Das Bundesgesundheitsministerium kooperierte laut Angaben einer BMG-Referentin für seine Maßnahmen bislang mit chinesischen Unternehmen sowie mit dem auf China spezialisierten Logistiker Fa. Fiege. Weiter seien momentan Verträge zur Beschaffung von medizinischem Bedarf aus dem Ausland mit deutschen Unternehmen wie der Lufthansa, VW, BASF, Otto und Daimler in Rede. Dafür würden Einkaufs- und Lieferketten mit den genannten Unternehmen aufgebaut:

 

Der Logistiker Fa. Fiege organisiert demnach die bundesweite Verteilung der Schutzausrüstungen an die Länder sowie an die Kassenärztlichen Vereinigungen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen verteilen den dringlich benötigten Medizinbedarf auf Landesebene an ambulante Ärzte, die Länder versenden an Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen.17 Die zentral beschafften Medikamente sollen über die Bundeswehr an Apotheken von Kliniken und Kompetenzzentren verteilt werden.18

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Maria Köpf
Autor: Maria Köpf

Frau Maria Köpf ist seit 2018 als freie Autorin für apomio tätig. Sie ist ausgebildete Pharmazeutisch-technische Assistentin und absolvierte ein Germanistik- und Judaistik-Studium an der FU Berlin. Inzwischen arbeitet Maria Köpf seit mehreren Jahren als freie Journalistin in den Bereichen Gesundheit, Medizin, Naturheilkunde und Ernährung. Mehr von ihr zu lesen: www.mariakoepf.com.

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